Additionalität: Wie viel Energiewende gibt’s fürs Geld?

Die Zeit läuft und die Energiewende ist drängender denn je. Wer einen Beitrag leisten will, tut dies oft wortwörtlich – durch Investitionen in erneuerbare Energien. Doch nicht jeder Beitrag hilft gleich viel. Hier kommt das Konzept der Additionalität zu Hilfe.

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Ein oranges Schiff mit Kran neben einer Windenergiealnalge im Meer

Die Energiewende ist ein ambitioniertes Projekt. Das machen verschiedene Kennzahlen deutlich, unter anderem die notwendigen Investitionen. Zwischen 1,4 und 1,6 Milliarden Franken pro Jahr sollten in der Schweiz in erneuerbare Stromtechnologien fliessen, um die Ziele des Mantelerlasses zu erreichen. Das sagt ein Bericht, den SWEET-EDGE, ein Teilbereich des SWEET-Förderprogramms des Bundes, 2024 veröffentlicht hat. Den Löwenanteil der neuen Produktionsmittel machen Photovoltaikanlagen aus. Wer durch solche Zahlen zum Investieren angeregt wird, steht vor der Frage, wo das Geld am besten angelegt ist.

Die Frage nach der Wirkung

Wer mit seinem Geld die Energiewende vorantreiben will, sollte zusätzliche Erzeugungskapazitäten von erneuerbaren Energieträgern schaffen. Für diese Zusätzlichkeit wird auch der Fachbegriff «Additionalität» verwendet. Vereinfacht gesagt, erfüllt eine Investition dann das Kriterium der Additionalität, wenn sie ein Projekt ermöglicht, das ohne den Investitionsbeitrag nicht zustande gekommen wäre und das einen nachweislichen Effekt hat.

Additionalität im Kontext der Nachhaltigkeit

Ein Bereich, in dem das Konzept der Additionalität in der Vergangenheit zu besonders kontroversen Diskussionen geführt hat, sind Klimaschutzprojekte im Ausland. Immer wieder wird ihnen vorgeworfen, nicht wirklich zur Reduktion des CO2-Ausstosses beizutragen. Die Zertifikate, die für solche Projekte ausgestellt und gehandelt werden, seien dadurch als Investition in den Klimaschutz fragwürdig. Eine aktuelle Metastudie des deutschen Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb hat über 60 empirische Studien zum Thema ausgewertet. Die Ergebnisse stützen den Vorwurf der mangelnden Additionalität von Klimaschutzprojekten.

Additionalität kann helfen, wirkungsvolle ökonomische Entscheidungen von weniger wirkungsvollen zu unterscheiden.

Doch auch andere Bereiche der Nachhaltigkeit lassen sich mit dem Konzept der Additionalität überprüfen. Klar ist die Sachlage, wenn ich eine eigene Photovoltaikanlage baue. Aber verbessert sich die CO2-Bilanz der Gasproduktion, wenn ich Biogas beziehe? Oder: Hat die Nutzung von «klimaneutralen» Cloud-Dienstleistungen wirklich keine Emissionen zur Folge?

Diese Beispiele zeigen die breite Anwendbarkeit des Konzepts «Additionalität»:

  • Der eindeutigste Fall für eine Investition, die das Additionalitätskriterium erfüllt, ist die Solaranlage auf dem eigenen Dach, an der Fassade oder am Balkon. Sie würde mit Sicherheit nicht gebaut, wenn man es nicht selbst tut. Somit ist die Zusätzlichkeit erfüllt. Dies unter anderem auch, weil der Markt noch lange nicht gesättigt ist.
  • Anders sieht das bei Biogas aus: Die Produktionskapazitäten in der Schweiz reichen nicht aus, um die aktuelle Nachfrage zu decken. Die zusätzliche Biogas-Nachfrage wird durch ausländische Zertifikate gedeckt, deren Klimabilanz fraglich ist. Ein zusätzlicher Franken für Biogas stellt also aktuell keine Additionalität klimafreundlicher Energie her. (Siehe dazu auch den Beitrag «Mehr Biogas für die Schweiz – oder doch lieber nicht?»)
  • Das letzte Beispiel zeigt, wie wichtig Geografie bei Additionalität ist – in diesem Fall diejenige der USA und ihrer Stromnetze. Manche US-amerikanische Cloud-Anbieter sind nur bilanziell klimaneutral, weil sie sich an abgelegenen Solar- und Windparks beteiligen. Der wachsende Strombedarf der Rechenzentren wird jedoch teilweise mit einem sehr CO2-intensiven Strommix gedeckt.

Additionalität bei erneuerbaren Energien

Das Beispiel der Cloud-Dienstleister zeigt einen Zielkonflikt beim Investieren in erneuerbare Energien. Unternehmen möchten dort investieren, wo die Rendite auf dem eingesetzten Kapital am grössten ist. Bezogen auf erneuerbare Energien heisst das: pro Franken möglichst viele Kilowattstunden. Nur können diese Kilowattstunden unter Umständen am falschen Ort oder zum falschen Zeitpunkt anfallen – siehe das obige Cloud-Beispiel. Oder, auch nicht besser: Jemand anderes hätte die Produktionskapazität sowieso finanziert. Die eine Investition verdrängt die andere – Additionalität adé.

Herkunftsnachweise und Power-Purchasing-Agreements im Fokus

Für Unternehmen, die in erneuerbare Energien investieren und dabei Additionalität sicherstellen wollen, sollte der durch die Investition ermöglichte erneuerbare Strom zeitlich und örtlich nahe am Ort des Verbrauchs produziert werden. Die Deutsche Energie-Agentur hat im Rahmen der «Marktoffensive Erneuerbare Energien» einen Leitfaden publiziert, der unter anderem verschiedene Beschaffungsstrategien bezüglich ihrer Additionalität bewertet. An der Spitze steht dabei die erneuerbare Stromproduktion vor Ort, gefolgt von sogenannten Power-Purchasing-Agreements (PPA) und dem Bezug von Herkunftsnachweisen (HKN). Der reine Bezug von Ökostrom aus dem Netz leistet in dieser Hinsicht den geringsten Beitrag zur Energiewende.

Die deutsche Behörde hat anhand «harter» wie «weicher» Kriterien (z. B.: Eignung für das positive Image der investierenden Firma) bewertet. Der Leitfaden darf also wörtlich als solcher verstanden werden, nicht aber als rein wissenschaftliche Arbeit.

Grafik: Deutsche Energie-Agentur (Hrsg.) (dena, 2022) «Beschaffungsstrategien für grünen Strom. Ein Leitfaden zur Beschaffung von grünem Strom für Stromabnehmer aus Industrie und Gewerbe», S.41

Das Schweizer HKN-System wird besser

Eine kanadische Studie von 2022 kam bezüglich HKN zu einem ernüchternderen Ergebnis. Es wurden Investitionen in erneuerbare Energien von 115 weltweit verteilten Unternehmen untersucht. Die meisten Unternehmen taten das über HKN. Sie schafften es in der Folge nicht, ihre mit dem Energieverbrauch verbundenen Emissionen so stark zu senken, wie es die eigenen Klimaziele erfordert hätten. Der Grund lag gemäss der Studie darin, dass zu viele HKN alter Kraftwerke gekauft wurden – und so wiederum keine echte Additionalität gegeben war.

In der Schweiz stellt das neue Energiegesetz die Weichen für mehr Additionalität. Ab 2028 müssen mindestens 20 Prozent der für die Grundversorgung benötigten Elektrizität sowie mindestens zwei Drittel der Herkunftsnachweise im Standardstromprodukt der Netzbetreiber aus inländischer und erneuerbarer Herkunft stammen. Ab dem Lieferjahr 2027 gilt zudem die quartalsscharfe Stromkennzeichnung. In der Schweiz werden alle HKN zentral von der Zertifizierungsstelle des Bundes, Pronovo, verwaltet.

Wo macht mein Geld einen Unterschied?

In den obigen Beispielen ist Additionalität in erster Linie für Unternehmen relevant. Das Konzept kann aber auch für Privatpersonen, die mit ihrem Kapital die Energiewende voranbringen möchten, als Anhaltspunkt dienen. Die private Solaranlage als positives Beispiel wurde bereits erwähnt.

Crowdfunding für Solaranlagen

Nicht ganz so einfach zu beantworten ist die Frage nach der Additionalität bei Crowdfunding-Projekten von Solaranlagen. Denn hier stellt sich vorab die Frage, warum die betreffenden Anlagen nicht von den Eigentümerinnen und -eigentümern der Flächen selbst realisiert werden. Wären sie dazu finanziell fähig, entscheiden sich aber, die Investition ans Crowdfunding «auszulagern», ist der gesamte Crowdfunding-Beitrag nicht additional. Weiter besteht die Gefahr, dass sich mehrere Personen beim Crowdfunding mit ihren Investitionen verdrängen. Damit wäre die einzelne Investition nicht additional. Forschung zu diesem Thema ist rar. Ein chinesisches Papier von 2021 hat Energie-Crowdfunding für 32 Länder untersucht und attestiert dem Finanzierungsmodell grundsätzlich einen positiven Effekt auf die Energiewende. Dies aber vor allem in China und Ländern des globalen Südens.

Grenzen des Additionalitätskonzepts

In diesem Beitrag wurde Additionalität als allgemeines Konzept vorgestellt. In der Praxis von Klimaschutzprojekten muss Additionalität aber oft rechnerisch nachgewiesen werden. Dabei wird meistens ein sogenanntes Baseline-Szenario errechnet, also die Entwicklung ohne das entsprechende Projekt. Diese Baseline wird dann der Entwicklung gegenübergestellt, die mit dem Projekt erwartet wird.

Ein anderer Ansatz ist die sogenannte Barriereanalyse, die Hindernisse nachweist, die ein Projekt ohne externe Unterstützung verhindern würden. Beide Ansätze müssen Annahmen treffen und sind deshalb nicht immer vollständig objektiv. Aus diesem Grund werden in der Praxis Additionalitäts­berechnungen oft durch eine unabhängige Stelle validiert.

Kritisch sein – und handeln

Additionalität kann helfen, wirkungsvolle ökonomische Entscheidungen von weniger wirkungsvollen zu unterscheiden. Gerade im Hinblick auf die grossen Aufgaben, die bei der Energiewende warten, ist diese Unterscheidung wichtig. Während im professionellen Bereich die Additionalität als rechnerisch-analytisches Konzept verwendet wird, kann sie im «Hausgebrauch» auch als schlichtes Gedankenspiel dienen. «Was würde ohne meinen Beitrag geschehen?», lautet die zentrale Frage. Damit wird auch klar, dass Additionalität nicht nur der Kritik dient. Sondern ein Ausgangspunkt ist, um die eigenen Mittel einzusetzen und zu handeln.