Wind- und Solarparks in Deutschland müssen immer wieder abgeschaltet werden, damit das Stromnetz nicht wegen Überlastung zusammenbricht. Nun werden die Leitungskapazitäten erweitert. Profitiert davon auch die Schweiz?
Die Energiewende nimmt in Deutschland die erste Kurve: 2024 wurden fast zwei Drittel des Stroms aus erneuerbaren Quellen erzeugt; knapp die Hälfte allein durch Wind und Sonne. Noch bemerkenswerter als der Rekordertrag ist der konstante Jahresverlauf: Die Quote sank in keinem Monat – nicht einmal im Winter – unter 50 %, meldete die deutsche Bundesnetzagentur.
Grund zur Besorgnis gibt einzig, dass Windkraft- und Photovoltaikanlagen bisweilen zu viel elektrische Energie erzeugen. Gemäss der Netzstatistik gingen im nördlichen Nachbarland 2024 rund drei Prozent des dezentral erzeugten Stroms verloren, weil sie weder lokal konsumiert, gespeichert noch exportiert werden konnten (Statistik). Wäre die erzeugte Energie trotzdem ins Netz eingespeist worden, hätten Blackouts die öffentliche Stromversorgung in Deutschland bedroht.
Ein Blackout im Stromnetz tritt bei zu wenig oder zu viel Energie auf. Im letzteren Falle reicht die Kapazität der Übertragungsleitungen nicht aus, um die erzeugten Überschüsse abzutransportieren. Netzengpässe drohen also dort, wo die tatsächliche Transportkapazität dem möglichen Einspeisebedarf hinterherhinkt.
Abschalten als Engpassmanagement
Vor Netzüberlastung schützt sich Deutschland mit dem immer gleichen Mechanismus: Windräder und Solaranlagen werden ausser Betrieb gesetzt, sobald temporäre Überschüsse drohen. Die nationale Regulierungsbehörde ordnet jeweils an, welche Anlagen abzuregeln sind. Damit gemeint ist ein externes Abschalten einzelner Produktionsanlagen durch die Netzbetreiber. Gut zu wissen für deutsche Stromproduzenten: Jede abgeregelte Kilowattstunde Strom wird vergütet. 2023 bezahlten die Netzbetreiber dafür mehr als drei Milliarden Euro. Dieser Aufwand wird über einen Netznutzungsentgelt an die Endbezüger weiterverrechnet.
Ein Management durch Einspeisebegrenzung erlaubt auch das neue Schweizer Stromgesetz. Solarfachleute und Netzbetreiber haben schon länger dafür geworben. Hierzulande können ab 2026 bis zu drei Prozent des Jahresertrags ohne Entschädigung abgeregelt werden.
Die nördlichen Bundesländer haben Windenergie deutlich stärker ausgebaut als jene im Süden. (Grafik: Bundesverband Windenergie)
Zweigeteiltes Deutschland
Trotz hoher Kosten kann auf das Abregeln derzeit nicht verzichtet werden. Denn Deutschland ist in Sachen Energie zweigeteilt: Im Norden dominiert die Windkraft; bei jedem Sturm drohen regionale Stromüberschüsse. Vom Schwarzwald bis nach Bayern zieht sich dagegen ein «Solargürtel», der die Netzstabilität in Süddeutschland bei längeren Sonnenperioden schnell aus dem Gleichgewicht bringen kann. Was fehlt, um das wetterbedingte Nord-Süd-Gefälle auszugleichen, sind interne Transferkapazitäten. Zum Beispiel «Stromautobahnen», die bei Bedarf Windenergie in grossen Mengen aus dem Norden nach Süden verfrachten können.
Bau einer Trasse im 580-kV-Hochspannungsnetz durch Deutschland (Foto: Tennet)
Erste Bodenkabel verlegt
Deutschland baut nicht nur den Kraftwerkspark um – von Kern- und Kohlekraft zu Wind- und Sonnenenergie – sondern investiert auch in die Netzinfrastruktur. Bis 2030 soll «Südlink», eine 700 Kilometer lange Stromleitung, die Nordseeküste mit Baden-Württemberg verbinden. Anfang 2025 verkündete die Bauherrschaft, die letzten Bewilligungen für die Nord-Süd-Trasse mit einer Übertragungsspannung von 580 kV seien erteilt. Einige Abschnitte sind bereits im Bau und erste Kabel im Boden verlegt. Die Kosten für die Gleichstrom-Leitung werden auf über zehn Milliarden Euro veranschlagt.
Beim Transport von Gleichstrom geht weniger Energie verloren als mit Wechselstrom. Auch eine Übertragung via Erdkabel reduziert die Verluste gegenüber Freileitungen. Zwar sind erstere drei bis zehnmal kostspieliger als eine oberirdische Übertragung. Doch dafür spricht vor allem: Der öffentliche Widerstand ist erheblich geringer. Der Entscheid für eine Erdverkabelung wurde in Deutschland politisch gefällt.
Geplanter Verlauf der Stromautobahn durch Bayern und Baden-Württemberg. (Karte: TransnetBW)
Der Bau der Gleichstromkabel vom Norden in den Süden Deutschlands kommt voran. (Foto: Tennet)
Neue Routen für Europa
Auch in der Nord- und Ostseeregion baut Deutschland seine Netzkapazitäten aus. Gleichstrom-Unterwasserkabel erschliessen die Windparks auf hoher See und gehen weiter nach Dänemark, Norwegen oder sogar Schottland. Dies ermöglicht einen grenzüberschreitenden Stromtransfer von Wind- und Wasserkraftanlagen aus dem hohen Norden direkt ins deutsche Netz.
Transkontinentale Ausbaupläne verfolgt auch die EU-Behörde. Geplant ist eine Grossleitung über den Alpenkamm, um Windstrom aus Griechenland nach Bayern zu verfrachten. Die Transitroute soll Österreich queren, eine Anbindung der Schweiz ist nicht geplant.
Schweiz: Kein Bedarf für Ausbau der Grenzknoten
Swissgrid als Betreiberin des Schweizer Höchstspannungsnetzes sieht keinen Bedarf für einen Ausbau der grenzüberschreitenden Leitungskapazität. Die Grenzkuppelstellen zwischen der Schweiz und Deutschland seien «sehr gut ausgebaut», bestätigt die nationale Netzgesellschaft in der aktuellen Entwicklungsstrategie. Trotzdem fliesst heute schon mehr und häufiger Strom zwischen beiden Ländern hin und her als bisher.
Die Hochspannungs-Schaltanlage (380 kV) im Stern von Laufenburg AG verbindet das Stromnetz der Schweiz mit denjenigen von Deutschland und Frankreich. (Foto: Swissgrid)
Das EKZ-Netz: Ausbau, Verstärkung und Digitalisierung
Der Transfer folgte bisher den Jahreszeiten: Im Winter importierte die Schweiz elektrische Energie aus dem Ausland, mehr als ein Drittel davon via Deutschland. Im Frühjahr exportierte sie dagegen Wasserstrom nach Deutschland. Neuerdings pendeln sich die Energieflüsse im Tagesrhythmus ein. Der deutsche Solargürtel liefert an sonnenreichen Tagen überschüssigen Strom in die Schweiz und nach Österreich. Nach Sonnenuntergang ist dagegen Wasserstrom aus den Alpenländern gefragt, um den Bedarf in Süddeutschland zu decken.
Der Markt steuert die Stromflüsse
Aber nicht nur die Natur und das Wetter treiben den Stromaustausch vermehrt an. Auch der Handel mit günstiger Energie spielt häufig mit. So deckt sich Deutschland immer dann in Frankreich, Dänemark, der Schweiz oder Norwegen ein, wenn deren Kern-, Wind- und Wasserkraftwerke billigeren Strom erzeugen als deutsche Anlagen. (Quelle: Fraunhofer ISE)
Diese Regel gilt auf dem gesamten europäischen Strommarkt: Der freie Handel mit Strom wird durch eine fixe Durchleitungsquote gesichert. Das «Clean Energy Package» der EU reserviert dafür 70 % der Übertragungskapazitäten, als Beitrag zur Marktintegration der erneuerbaren Stromproduktion.
Visualisierung des derzeit grössten, genehmigten Batteriespeicherprojekts in Deutschland. Die Anlage besitzt eine Leistung von 137,5 Megawatt und eine Speicherkapazität von 275 Megawattstunden. Dies würde ausreichen, um eine halbe Million Haushalte für zwei Stunden mit Strom zu versorgen. (Bild: Kyon Energy)
Was gibt das bestehende Netz her?
Der Netzausbau hält in Deutschland noch nicht mit dem Boom von Wind- und Solarparks mit. Hilfreich wären grössere Speicherkapazitäten. Doch der Zubau an Grossbatterien lässt auf sich warten. Erst für die kommenden Jahre sind Vorhaben für Batteriespeicher mit Leistungen über 100 Megawatt angekündigt. Kurzfristig stellt sich die Frage, ob nicht auch die bestehende Infrastruktur allfällige Reserven für die Durchleitung besitzt? Der deutsche Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) hat das bundesweite Stromnetz diesbezüglich analysiert. Eine Erkenntnis ist: Die physikalische Belastbarkeit ist effektiv nicht ausgereizt. «Es gibt verborgene Lastpotenziale», urteilt die VDE-Studie. Diese auszuschöpfen, wäre besser als produktive Energieanlagen temporär abzuschalten.
Nicht ohne Weiteres veränderbar
Die VDE-Studie hält eine Erhöhung der Durchleitungskapazitäten um maximal 60 % für möglich. Dazu seien keine baulichen Massnahmen erforderlich. Voraussetzung dafür ist jedoch, die Netze digital zu steuern und den Durchfluss in den Kabeln wetterabhängig anzupassen.
Maximal 60 % mehr Strom durchleiten wäre möglich.
Deutscher Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE)
Auch Transformatoren und Schaltanlagen seien für solche Zusatzbelastungen ausgelegt, sodass mehr Strom als bisher durchgeleitet werden könne. Unter anderem steige dadurch der Kühlbedarf der Netzanlagen.
Einen grossen Vorbehalt äussern die Studienautoren allerdings. Das Lastmanagement lasse sich nicht ohne Weiteres verbessern. Zuerst seien betriebliche und regulatorische Hürden zu meistern. Es brauche ein «fachbereichsübergreifendes Zusammenspiel», um die technischen Regeln anzupassen und rechtliche Fragen zum Haftungsrisiko zu klären. Die Energiewende hat in Deutschland noch einige Hindernisse zu umrunden – wie auch anderswo. Denn schaut man auf die Anteile von Sonnen- und Windenenergie im Stromnetz, ist Deutschland der Schweiz um einige Jahre voraus.
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