Elektrifizierung der Schweiz: ein Expertengespräch
Die Energiewende bringt die Elektrifizierung von Verkehr und Wärme mit sich. E-Autos und Wärmepumpen gibt es bereits heute, doch ihre Zahl soll zunehmen. Hält unser Energiesystem dem stand?

Die Energiewende bringt die Elektrifizierung von Verkehr und Wärme mit sich. E-Autos und Wärmepumpen gibt es bereits heute, doch ihre Zahl soll zunehmen. Hält unser Energiesystem dem stand?
Verfasst von Paul Drzimalla
Jede Phase der Energiewende kennt ihre Mythen. Aktuell taucht immer wieder das Gespenst des Strommangels auf. Wenn immer mehr Fahrzeuge elektrisch fahren, Gebäude mit elektrisch angetriebenen Wärmepumpen geheizt werden, dann werde schon bald der Strom knapp, heisst es. Erst recht, wenn der Strom aus erneuerbaren Energien stammen soll und Schweizer Kernkraftwerke mit einem Ablaufdatum versehen sind. Was ist dran an diesen Sorgen um die Stromzukunft, und welche Antworten gibt es aus wissenschaftlicher Sicht?
Wer Fragen nach der drohenden Stromknappheit durch die Elektrifizierung von Verkehr und Wärme halbwegs seriös beantworten will, kommt nicht um Modelle herum. Sie versuchen, mit Daten und theoretischen Annahmen einen kleinen Teil der Zukunft abzubilden.
Eine aktuelle Übersicht der Schweizer Energiezukunft bietet SWEET-CROSS+, eine öffentliche Daten- und Modellplattform, auf der verschiedene Modellergebnisse des Schweizer Energiesystems für das Jahr 2050 dargestellt und verglichen werden können. Die Modelle sind sowohl nur für die Schweiz entworfen als auch für die EU und auf die Schweiz adaptiert. Die meisten Modelle unterscheiden jeweils danach, ob Klimaneutralität komplett im Inland oder auch durch CO2-Reduktionen im Ausland erreicht wird und ob die Integration in den europäischen Energiemarkt hoch oder tief ist.
Hannes Weigt ist Professor für Energieökonomie an der Universität Basel. Er leitet das SWEET-Konsortium CoSi (Co-Evolution and Coordinated Simulation of the Swiss Energy System and Swiss Society), dessen erstes Arbeitspaket CROSS+ ist. Im Gespräch erklärt er, was die verschiedenen Modelle und Szenarien über die Energiewende und den Weg dorthin aussagen. Aber auch, wo die Aussagekraft von Modellen aufhört – und die Verantwortung der Gesellschaft für die Energiewende beginnt.
Herr Weigt, beginnen wir gleich mit der zentralen Frage: Geht uns bei einer zunehmenden Elektrifizierung von Verkehr und Wärme der Strom aus?
Grundsätzlich erst einmal nicht. Die Nachfrage nach Strom steigt ja nicht von heute auf morgen, sondern graduell über die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Es bleibt also genug Zeit, auch die Angebotsseite anzupassen. Die letzten Modellergebnisse des CROSS-Szenarienvergleichs zeigen, dass die zukünftige Schweizer Stromnachfrage problemlos gedeckt werden kann.
Diese Szenarien beschreiben das Jahr 2050. Wie wird dann der Strom erzeugt, der diese zusätzliche Nachfrage deckt?
Durch einen Mix aus der bestehenden Wasserkraft, zugebauten neuen erneuerbaren Anlagen – insbesondere Photovoltaik – und dem Handel mit unseren europäischen Nachbarn.
Dieser Mix ist also mehrheitlich erneuerbar. Gilt das nur für die Jahresbilanz oder zu jedem Zeitpunkt? Kritikerinnen und Kritiker der Elektrifizierung verweisen ja gerne auf die sogenannte Dunkelflaute, also Zeiten, in denen Sonne und Wind wenig Strom erzeugen. Dann, so die Behauptung, würde das E-Auto nicht mit erneuerbarem Strom betrieben, sondern zum Beispiel mit importiertem fossilem Kohlestrom.
Die CROSS-Zahlen sind die jeweiligen Jahresbilanzen, wobei die zugrundliegenden Modelle meist stündliche Auflösung haben. Bilanzen über das Jahr sagen zunächst sehr wenig über die stündliche, wöchentliche oder saisonale Aufteilung. Das ist korrekt. Auch korrekt ist aber, dass die Schweiz heute im Winter tendenziell einen Nettoimport und im Sommer einen Nettoexport hat. Der kurzfristige Ausgleich von Erzeugung und Nachfrage wird auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe des Stromsystems bleiben. Handel ist dabei ein zentraler Baustein, da in einem grossen Markt wie Europa die Systembedingungen lokal sehr unterschiedlich sein können. Doch neben dem Handel spielt die Flexibilität auf der Nachfrageseite eine immer wichtigere Rolle.
Was bedeutet das?
Wenn das Auto zwingend am Abend direkt nach dem Einstecken wieder vollgeladen werden muss, führt das tendenziell zu sehr hohen Nachfragespitzen, die unnötig viel Netz- und Erzeugungskapazität benötigen. An diesem Punkt wird jeweils das Wort «smart» in die Diskussion geworfen. Elektroautos, Wärmepumpen oder lokale Batteriespeicher eröffnen Potenzial für Nachfrageverschiebungen, die über smarte Lösungen angesteuert und über finanzielle Anreize ausgelöst werden können. Wenn man all das nicht macht, bleibt nur deutlich höherer Zubau auf der Angebotsseite.
Aber um noch einmal spezifisch auf die angesprochene Dunkelflaute zu kommen: 2050 will sowohl die Schweiz als auch die EU Netto-Null-Emissionen erreicht haben. Strom sollte da schon ein paar Jahre vorher vollkommen frei von fossiler Erzeugung sein. Also muss auch das Backup für die Sonnen- und Windlücken CO2-neutral sein.
Die CROSS-Szenarien unterscheiden sich bezüglich des totalen Stromverbrauchs und -angebots deutlich. Warum?
Die Modelle treffen unterschiedliche Annahmen, wie sich die Kosten und Technologien entwickeln. Also ob es zum Beispiel günstiger ist, Wasserkraft und Photovoltaik mit Windkraft zu ergänzen – oder eher mit Biomasse oder Importen. Insbesondere die technischen Annahmen haben grosse Auswirkungen auf die Nachfrageseite. So variiert zum Beispiel die Annahme für den Stromverbrauch von Elektroautos über die verschiedenen Modelle von 17 bis 32 kWh pro 100 km. Selbst bei identischem Gesamtfahrvolumen ergäbe sich damit eine deutliche Differenz in der resultierenden Stromnachfrage.
Welche Annahmen werden zu Speichern getroffen? Nutzen wir 2050 Pump- oder Batteriespeicher?
Die zukünftigen Speicherkosten sind eine der grossen Unbekannten. Es wird sicher billiger. Aber wie schnell und um wie viel? Und welche neuen Technologien kommen noch dazu? Die Modelle weisen da Unterschiede in den Annahmen auf, was zu entsprechenden Unterschieden in den resultierenden Zahlen führt. Aber wir sehen heute schon einen deutlichen Zuwachs an Batteriekapazitäten.
Mit dem weiteren Zubau von Photovoltaik folgt sehr oft auch ein Zubau an Batterien. Elektroautos werden dank des bidirektionalen Ladens ebenfalls das Speicherpotenzial erhöhen. Beides wird in Zukunft in der Schweiz unsere bereits bestehenden Pumpspeicherkapazitäten ergänzen. Wir müssen es nur sinnvoll einsetzen. Die Anreize müssen also stimmen.
Grundsätzlich: Wie gut decken die verschiedenen CROSS-Szenarien den möglichen Verlauf der Energiewende bis 2050 ab? Gibt es blinde Flecken?
Vereinfacht gesagt bilden die Modelle die technische Struktur unseres Energiesystems ab, und erstellen daraus nach bestimmten Annahmen ein optimales Gesamtenergiesystem. Sie zeigen also vor allem auf, was technisch möglich ist. Der Mensch als solches kommt in den Modellen nicht direkt vor. Entsprechend ist auch die Komplexität unseres Handelns nicht Bestandteil der Modelle per se.
Aspekte wie Anreizstrukturen für Renovationen oder Installation von Photovoltaik, Batterien und Wärmepumpen, die Akzeptanz von verschiedenen Technologien oder auch politische Vorgaben und Regulierungen müssen daher angenähert werden, indem man die technischen Modellparameter anpasst, soweit dies möglich ist. Man sollte die Modellergebnisse deshalb eher so verstehen, dass sie uns zeigen, was möglich wäre. Wir müssen nun entscheiden, was wir wie umsetzen wollen, um diese Möglichkeiten auch Realität werden zu lassen.
Haben die Szenarien auch ein «Preisschild»? Sprich: Machen sie Aussagen über die Transformationskosten hin zum zukünftigen Energiesystem oder die Energiekosten darin?
Die Modelle basieren alle auf verschiedenen Kostenannahmen, was einen Vergleich zwischen den Modellen sehr schwierig macht. Fakt ist: Wir müssen so oder so in unser Energiesystem investieren, da es recht alt ist. Auch ohne Transformation fallen also viele Kosten an.
Wir müssen so oder so in unser Energiesystem investieren, da es recht alt ist.
Daneben gibt es dann noch die unbekannten zukünftigen Importkosten für fossile und nukleare Brennstoffe sowie die externen Kosten, welche mit deren Nutzung verknüpft sind. Da gerade diese externen Kosten meist nur unzureichend in unseren aktuellen Preisen abgebildet sind – die Preise also zu niedrig sind –, ist man oft versucht zu sagen, dass alles teurer wird.
Da externe Kosten heute unzureichend abgebildet und die Preise somit zu niedrig sind, entsteht der Eindruck, dass alles teurer wird.
Es gibt aber auch gute Argumente, dass das zukünftige System billiger wird als das heutige. Wenn die Kosten für erneuerbare Energien und Speicher weiter sinken und die Energieeffizienz von Elektroautos und Wärmepumpen weiter steigt, kann eine Energieversorgung, die stärker auf Strom setzt, günstiger sein als die heutige, die grösstenteils auf fossile Energieimporte ausgelegt ist.
Gibt es inzwischen schon Hinweise darauf, zu welchem der Modelle der aktuelle Pfad der Energiewende in der Schweiz und in Europa am besten passt?
Der CROSS-Modellvergleich bildet das System 2050 ab, nicht aber den Weg dorthin. Wir müssten also noch ein gutes Weilchen warten, bis wir feststellen, welches der Modelle am besten zur Realität von 2050 passt. Grundsätzlich sind die Modelle keine Vorhersagen. Es geht darum zu verstehen, welche Auswirkungen verschiedene Annahmen und Strukturen haben.
Es geht darum zu verstehen, welche Auswirkungen verschiedene Annahmen und Strukturen haben.
Vergleicht man solche Modelle mit realen Entwicklungen, kommt es daher zwangsläufig zu Abweichungen. Eine sehr häufige Abweichung ist dabei die Entwicklung der Erneuerbaren, die immer wieder unterschätzt wird. So ist der World Energy Outlook (WEO) der Internationalen Energieagentur IEA fast schon berühmt dafür, den Zubau an Wind- und Solarenergie zu unterschätzen. Das ist immerhin ein Referenzdokument für die globale Energieentwicklung; und doch wurden die Zubauwerte für das Jahr 2030 mit jeder neuen Ausgabe des Berichtes grösser.
Für die Schweiz geht es aber weniger um die Frage, welches Modell am besten passt, als mehr um die Frage, ob unser aktueller Zubau bei den Erneuerbaren ausreicht, um die im revidierten Stromgesetz festgelegten Zielwerte für 2035 und 2050 zu erreichen. Und da müssen wir in jedem Fall – salopp gesagt – noch eine Schippe drauflegen.
Wir sind in der Schweiz also besser darin, die Energiewende zu modellieren als sie herbeizuführen?
So würde ich das nicht sagen. Modelle bilden am Ende immer nur ihre Annahmen ab. Sie führen nichts direkt in der Realität herbei. Aber sie beeinflussen durchaus die gesellschaftlichen Diskussionen und damit die Entscheidungen, welche am Ende die Realität der Energiewende bestimmen.
Wir können die Installationskosten beeinflussen – die grossen Trends machen andere.
Fairerweise muss man festhalten, dass viele dieser wichtigen Entscheidungen ausserhalb der Schweiz fallen. Wir haben keine Automobilindustrie und sind als Abnahmemarkt viel zu klein, um dort irgendwelche Entwicklungen mitzubestimmen. Das Gleiche gilt für die Kostenentwicklungen von Solarpanels, Windturbinen oder Speichertechnologien. Wir können die lokalen Installationskosten beeinflussen – die grossen Trends machen andere.
Gibt es denn Ereignisse, die eines oder mehrere der CROSS-Szenarien enorm unplausibel machen könnten – eine Abschwächung der Klimaziele, Preisschocks, geopolitische Spannungen?
Die Grundparameter der Energiewende sind eigentlich sehr stabil und nicht von der aktuellen Weltlage abhängig: Wir müssen die Erzeugung auf erneuerbare Energien umstellen, den Gesamtenergieverbrauch reduzieren und die Elektrifizierung vorantreiben. Das ist der Kern der Schweizer Energiestrategie und auch von derjenigen der EU.
Die verschiedenen Modelle geben eigentlich nur die numerischen Details wieder. Da die Modelle, wie gesagt, technische Abbildungen sind, können viele Dinge die realen Entwicklungen in die eine oder andere Richtung verschieben. Aber die Grundrichtung bleibt dabei immer dieselbe.
Gibt es keine Unsicherheiten?
Eine der grössten Unsicherheiten ist momentan die Rolle der synthetischen Kraftstoffe, da es sehr schwer abzuschätzen ist, wie günstig oder teuer diese in Zukunft sein werden.
Eine der grössten Unsicherheiten ist momentan die Rolle der synthetischen Kraftstoffe.
Das künftige Stromabkommen mit der EU sollte ebenfalls Auswirkungen darauf haben, wie viel wir in der Schweiz an neuen Erneuerbaren zubauen. Das Abkommen formuliert diesbezüglich ein ambitioniertes, aber auch unverbindliches Ziel. Aber all das sind keine Variationen von Schwarz zu Weiss, sondern nur unterschiedliche Grautöne.
Die erwähnten synthetischen Kraftstoffe werden immer wieder als Alternative zu einer Elektrifizierung von Wärme und Transport aufgeführt. In den CROSS-Szenarien schwankt das Angebot zwischen Null und 12 TWh. Was führt zu diesen Unterschieden?
Zunächst ist es immer effizienter, elektrische Energie direkt zu nutzen, als damit in komplexen Verfahren Treibstoffe herzustellen. Diesen Effizienzvorteil müssen synthetische Energieträger über anderweitige Vorteile wettmachen. Das kann Speicherbarkeit oder Verfügbarkeit sein.
Die angesprochenen Unterschiede hängen mit den Kostenannahmen für importierte, synthetische Energieträger zusammen. Sind diese Kosten tief, fällt der Vergleich mit elektrischen Anwendungen dann positiver aus. Doch da wir von Importen reden, sind wir wieder genau bei den globalen Entwicklungen: Die Trends bei synthetischen Energieträgern werden grösstenteils nicht in der Schweiz definiert.
… und der Effekt unseres Handelns ist in den modellierten Szenarien eher klein. Die Energiewende folgt also einem Pfad?
Der Effekt unseres Handelns ist in den CROSS-Szenarien über die Annahmen definiert. Sprich, wenn man davon ausgeht, dass wir in Zukunft weniger Auto fahren, passt man die Nachfrage nach Mobilität für die Modellierung entsprechend an.
Die Frage ist weniger, welchen Effekt unser Handeln hat, sondern: Welche zukünftigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen bilden die Modelle ab und welche nicht? Die meisten Annahmen sind eher konservativ. Da gibt es keine Welt ohne Autos oder mit extrem niedriger Energienachfrage, keine technischen Wunder. Das definiert, aus welchen Bausteinen die Modelle ihre Zukunftsvisionen zusammenzusetzen. Dieser Bausatz sieht bei vielen Modellen sehr ähnlich aus.
Danke, Hannes Weigt, für das Gespräch.
Dieser Beitrag hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die Elektrifizierung von Verkehr und Mobilität die Stromversorgung vor ein Problem stellt. Die Antwort fällt langfristig beruhigend aus, kommt aber mit Nebenbedingungen. Die wichtigste davon ist, dass die Energiewende nicht von alleine passiert. Gerade die Schweiz ist momentan nicht auf Kurs, die erneuerbaren Energien schnell genug zuzubauen. Ein weiterer Beitrag wird sich mit der Frage befassen, wie der Zubau beschleunigt werden kann, so dass er der Energiewende dient.
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International Energy Agency IEA
Bundesrat
Paul Drzimalla ist Texter/Konzepter und Redaktor bei Kooi AG. Er schreibt unter anderem über Energie- und Nachhaltigkeitsthemen.
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