Kann die Schweiz energieautark werden?
Das Jahr 2022 macht deutlich, wie stark die Schweizer Energieversorgung von Importen abhängig ist. Mehr Autarkie könnte die Versorgungssicherheit erhöhen, doch der Weg dorthin führt über einige Hürden.
Das Jahr 2022 macht deutlich, wie stark die Schweizer Energieversorgung von Importen abhängig ist. Mehr Autarkie könnte die Versorgungssicherheit erhöhen, doch der Weg dorthin führt über einige Hürden.
Verfasst von Remo Bürgi
Island ist hierzulande vor allem als attraktive Reisedestination und für gelegentliche Ausbrüche von Vulkanen bekannt, deren Namen unsereins nur schwer auszusprechen vermag. Doch Eyjafjallajökull und Co. sorgen mit ihren Aschewolken nicht nur für Störungen im europäischen Flugverkehr, sondern auch für die weitgehend autarke Wärme- und Stromversorgung. Die Insel im Nordatlantik profitiert von der vulkanischen Aktivität, die Erdwärme vielerorts einfach und preiswert verfügbar macht. Zusammen mit der Wasserkraft stehen so wertvolle erneuerbare Energiequellen zur Verfügung. In der Schweiz sind die geologischen Voraussetzungen natürlich völlig anders. Wäre – als Gedankenspiel – eine autarke Energieversorgung trotzdem möglich?
In Sachen Energie ist die Schweiz von einer Autarkie noch weit entfernt, ist sie doch in allen Bereichen der Energieversorgung auf Importe angewiesen. Zwar sank die Abhängigkeitsquote im letzten Jahrzehnt deutlich – sie beträgt gemäss dem Bundesamt für Statistik aber noch immer 70 % (siehe Grafik). Für die Mobilität benötigen wir fossile Treibstoffe, ebenso für die Wärmeversorgung. Beide Bereiche sollen in den kommenden Jahrzehnten elektrifiziert werden, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren.
Der Umstieg auf die Elektromobilität und die zunehmende Verwendung von Wärmepumpen führen zu einem höheren Strombedarf. Bei der Elektrizitätsversorgung besteht allerdings schon länger eine Abhängigkeit von anderen europäischen Staaten. Im Winter benötigt die Schweiz Strom aus dem Ausland, weil die inländische Produktion die Nachfrage nicht decken kann. Die hiesige Stromgewinnung basiert zu rund 60 % auf der Wasserkraft, die aber jahreszeitlich bedingten Produktionsschwankungen unterliegt. «Wie der trockene Sommer 2022 zeigte, ist die Leistung der Wasserkraftwerke witterungsabhängig», sagt Stephanie Bos, Mediensprecherin der Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, ist das Schweizer Stromnetz deshalb über insgesamt 41 Grenzleitungen ans kontinentaleuropäische Netz angebunden.
Eine energieautarke Schweiz hätte nicht nur die bestehenden Versorgungsdefizite im Winter auszugleichen, sondern müsste überdies die durch die Elektrifizierung von Wärmeversorgung und Mobilität entstehende Nachfrage stemmen. Diesen riesigen Strombedarf müssten wir in Einklang mit der Energiestrategie 2050 aus erneuerbaren Quellen decken. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Kernkraft, die heute in der Winterstromversorgung zeitweise über 50 % der inländischen Produktion abdeckt, früher oder später wegfällt. Der Autarkie dient sie ohnehin nicht, weil hierzulande kein Uran vorhanden ist.
Es läge also an der Wasser-, Wind- und Sonnenkraft, den Schweizer Strombedarf sicherzustellen. Vor allem die Photovoltaik soll stark ausgebaut werden. Theoretisch wäre es möglich, mit einem kompromisslosen Zubau die nötigen Kapazitäten bereitzustellen, wie eine Übersicht der Berner Fachhochschule (PDF) zeigt. Doch dafür müsste man einen Grossteil der verfügbaren Flächen (Dächer, Fassaden, Infrastrukturbauten) mit Solarmodulen ausstatten und zudem verstärkt Anlagen in den Bergen realisieren, wo im Winter besonders viel Ertrag möglich ist. Ob der Ausbau in diesem Umfang und im gewünschten Tempo gelingt, ist offen. Auch ein umfassender Ausbau von Wasserkraft oder Windkraft scheint derzeit unrealistisch.
Selbst wenn die erneuerbare Stromproduktion grundsätzlich eine komplette Autarkie ermöglichen würde, müssten zusätzlich Sicherheiten und Reserven bereitgestellt werden. Würde zum Beispiel das Wasserkraftwerk Bieudron im Wallis mit einer Leistung von 400 MW ausfallen, müsste dies jederzeit ausgeglichen werden können. «Ohne rasch verfügbaren Strom aus einer Reserve würde die Frequenz drastisch absinken, was eine Netzstörung mit einem Teilblackout oder einem vollständigen Blackout zur Folge hätte», erläutert Swissgrid-Sprecherin Bos. Da ein Aufbau von Reservekapazitäten im erforderlichen Umfang sehr teuer und deutlich unwirtschaftlicher wäre, wird die Versorgungssicherheit heute und wohl auch in Zukunft durch die Zusammenarbeit mit dem Ausland gewährleistet.
Reservekapazitäten im erforderlichen Umfang wären sehr teuer und deutlich weniger wirtschaftlich als die Zusammenarbeit mit dem Ausland.
Der Bedarf für Backup-Lösungen steigt dabei nicht nur wegen der erneuerbaren Energien, auch der Ausfall eines unserer vier Kernkraftwerke zu einem ungünstigen Zeitpunkt könnte ernste Konsequenzen haben.
Ein Inselbetrieb des Schweizer Stromnetzes wäre nicht nur wirtschaftlich fragwürdig, sondern auch aus technischer Sicht problematisch, denn die bestehenden Netzverbindungen lassen sich nicht einfach kappen. «Wir müssten an den Grenzleitungen Phasenschiebertransformatoren installieren, was mit Kosten von bis zu einer Milliarde Franken verbunden wäre», sagt Bos. Zudem würde diese Umrüstung gemäss Swissgrid aufgrund von Koordinations-, Beschaffungs- und Installationsfristen 15 bis 20 Jahre dauern.
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Jetzt für den Newsletter anmeldenSelbst bei einer weitreichenden Elektrifizierung von Wärmeversorgung und Mobilität wird es Bereiche geben, die auf die Versorgung durch Brennstoffe angewiesen sind. Hochtemperaturwärme für die Industrie sowie Schwertransporte oder der Flugverkehr dürften nur bedingt elektrifizierbar sein. Die wahrscheinlichste Option ist, dass die fossilen Brennstoffe durch künstlich hergestellte, CO2-neutrale Brennstoffe substituiert werden. Dazu sind jedoch grosse Mengen erneuerbaren Stroms nötig, der in der Schweiz kaum vorhanden sein wird. Solche Brennstoffe werden wir folglich wohl ebenso importieren müssen wie heute ihre fossilen Pendants.
Damit ist aus technischen und wirtschaftlichen Gründen klar: Eine Insellösung würde den sicheren Netzbetrieb sowie die Versorgungssicherheit gefährden und ist daher für die Schweiz keine sinnvolle Option. Wir werden auch in einigen Jahrzehnten noch Strom importieren müssen, um die Winterlücke zu decken. Wichtig ist, dass die Importe gut diversifiziert sind, um – im Gegensatz zu heute – nicht von einzelnen Staaten abhängig zu sein. Und selbstverständlich sollte die Schweiz ihre Abhängigkeit von ausländischer Energie weiter reduzieren, indem sie in erneuerbare Energieträger und in saisonale Speicher investiert und die Energieeffizienz fördert.
Titelfoto
Im Swissgrid-Unterwerk Laufenburg kommen Leitungen aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz zusammen. (Foto: Swissgrid)
Berner Fachhochschule BFH
Kommunikator ZFH, arbeitet bei Faktor Journalisten. Sein Schwerpunkt liegt auf den Themen Energie, Nachhaltigkeit und Mobilität.
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