Kernkraft: Zubau international und neue Technologien

Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011 verabschiedeten sich viele Länder von der Kernenergie. Es gibt aber auch zahlreiche Staaten, die neue Kraftwerke bauen. Zudem wird intensiv an neuen Techniken geforscht, welche die Kernenergie sicherer und wirtschaftlicher machen sollen.

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AKW mit vier Kühltürmen in Flusslandschaft

Im Jahr 2020 haben alle Kernkraftwerke weltweit zusammen 2553 TWh Elektrizität produziert, wie der World Nuclear Industry Status Report 2021 zeigt. Knapp 23 TWh davon stammten aus der Schweiz. Die globale Produktion sank im Vergleich zu 2019 um 104 TWh (3,9 Prozent). Damit hatte die Kernkraft noch einen Anteil von 10,1 Prozent an der globalen Stromproduktion – 0,3 Prozent weniger als im Vorjahr.

China überholt Frankreich

Auf der Liste der Länder mit der grössten Kernenergieproduktion liegen die USA mit deutlichem Abstand auf Platz 1. China belegt Rang 2 und liegt damit erstmals vor Frankreich auf Rang 3. Komplettiert werden die Top 5 von Russland und Südkorea. Diese fünf Länder waren 2020 für 72 Prozent der weltweiten Kernenergieproduktion verantwortlich. Die restlichen 28 Prozent verteilen sich auf 28 weitere Staaten von Kanada auf Rang 6 bis Weissrussland auf Rang 33 (siehe Grafik).

Übersicht der 33 Länder, die Kernenergie produzieren
Übersicht der Kernenergie-Produzenten mit der Produktion 2019 und 2020 (links) sowie dem Anteil der Kernenergie an der inländischen Stromproduktion (rechts). Die längeren Balken bezeichnen jeweils den historischen Höchststand. (Grafik: World Nuclear Report 2021)

Entwicklung der Kernenergie seit 2001

Der Kernkraft-Boom der 1970er- und 1980er-Jahre erhielt nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 einen argen Dämpfer. In den Neunzigern kamen jährlich nur noch etwa fünf neue Reaktoren dazu, während vermehrt Kraftwerke abgeschaltet wurden. Seit der Jahrtausendwende halten sich die Inbetriebnahmen (95) und Schliessungen (98) von Reaktoren weltweit in etwa die Waage.

China setzt stark auf Kernenergie

Die Entwicklung verläuft aber keineswegs nach einem einheitlichen globalen Trend. Vielmehr gibt es Länder wie Japan, Deutschland, die USA oder Schweden, die ihre Kernenergieproduktion deutlich reduziert haben. Demgegenüber steht insbesondere China, das sehr stark auf Kernenergie setzt. Es hat in den letzten beiden Dekaden 47 Reaktoren ans Netz gebracht, also gut die Hälfte der weltweiten Neubauten in dieser Periode. Klammert man China in der Statistik aus, zeigt sich daher ein ganz anderes Bild: Im Rest der Welt waren 2020 ganze 50 Reaktoren weniger in Betrieb als noch 2001.

Säulengrafik visualisiert in Betrieb genommene und abgeschaltete Reaktoren auf der Zeitachse
Wie die Übersicht zeigt, wurden seit 2000 etwa gleich viele Reaktoren in Betrieb genommen wie abgeschaltet. (Grafik: World Nuclear Report 2021)

Kernenergie-Technik heute und morgen

Seit in den späten 1950er-Jahren die ersten prototypischen Kernreaktoren der Generation I in Betrieb genommen wurden, hat sich die Technik stetig weiterentwickelt. Die Druckwasser- und Siedewasserreaktoren der Generation II, die ab den 1960ern realisiert wurden, kommen auch in den Schweizer Kernkraftwerken Beznau, Leibstadt und Gösgen zum Einsatz. Als evolutionäre Weiterentwicklung (Verbesserung der Sicherheit) folgte die Generation III, die seit 1996 verwendet wird.

Generation IV: Die Schweiz forscht mit

Seit mehr als 20 Jahren wird bereits an der Generation IV geforscht. Koordiniert wird die Forschungsarbeit vom «Generation IV International Forum» (GIF), in dem nebst den grossen Kernkraft-Nationen wie Frankreich, China und den USA auch die Schweiz vertreten ist. Das GIF hat verschiedene Entwicklungsziele mit hohen Anforderungen punkto Sicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit festgelegt (siehe Aufklappelement).

Die Entwicklung neuer Reaktortypen basiert auf unterschiedlichen Ansätzen. Das GIF fokussiert sich auf folgende sechs Konzepte:

  1. Gas-Cooled Fast Reactor (GFR)
  2. Lead-cooled Fast Reactor (LFR)
  3. Molten Salt Reactor (MSR)
  4. Supercritical Water-cooled Reactor (SCWR)
  5. Sodium-cooled Fast Reactor (SFR)
  6. Very High Temperature Reactor (VHTR)

Konkrete Projekte gestartet

Die sechs Reaktorkonzepte verfolgen gegenüber den Typen der dritten Generation neue Verfahren zur Kühlung und zum Wärmeaustausch. Teilweise können sie den Brennstoff nicht nur spalten, sondern auch neuen, ebenfalls spaltbaren Brennstoff erzeugen. Solche Reaktortypen werden auch als «Brutreaktor» bezeichnet. Gemäss GIF könnten einige der sechs untersuchten Reaktortypen in den kommenden Jahren erprobt und ab 2030 kommerziell eingesetzt werden. Gemäss Medienberichten stand China im Herbst 2021 kurz davor, den Testbetrieb eines Thorium-Flüssigsalzreaktors aufzunehmen. In den USA will die Firma TerraPower von Bill Gates bis 2028 einen Salzwasserreaktor bauen. Auch Russland ist bei der Entwicklung eines Generation-IV-Reaktors aktiv: Ebenfalls 2021 soll im sibirischen Tomsk mit dem Bau eines bleigekühlten Reaktors begonnen worden sein.

Alternative SMR: das Kernkraftwerk als Modul

Während vor allem in Asien immer grössere Kernkraftwerke geplant und gebaut werden, erlebt eine gegenläufige Idee, die bereits in den 1950er-Jahren erstmals vorgeschlagen wurde, einen erneuten Aufschwung. Die Rede ist von sogenannten «Kleinen modularen Reaktoren» (englisch: Small Modular Reactors, SMR). Diese sollen das Problem der hohen Investitionskosten von AKW lösen. In der Tat sind die SMR viel kleiner als konventionelle Kernkraftwerke und können daher zu viel tieferen Kosten gebaut werden. Ein anderes Argument der Befürworter von SMR betrifft die Sicherheit: Im Fall einer Störung würden die kleineren Reaktoren mit ihrem entsprechend kleineren Kernbrennstoffinventar ein viel geringeres Umweltrisiko darstellen als grosse AKW.

Kraftwerk im sanften Licht des Sonnenaufgangs
Können SMR grosse Nuklearkatastrophen wie jene in Tschernobyl verhindern, wo heute ein riesiger «Sarkophag» die radioaktive Strahlung minimiert? (Foto: Shutterstock / Anton Yuhimenko}

Die Idee ist, SMR in Fabrikhallen vorzufertigen und auf der Baustelle zusammenzusetzen. Das würde die Produktionskosten durch Serienfertigung der vorgefertigten Komponenten senken. Allerdings müsste man mit dem SMR-Konzept mehr kleine Reaktoren bauen, um die benötigte Leistung zu erhalten, und jeder dieser kleinen Reaktoren würde ein eigenes System für Steuerung und Sicherheit benötigen. Statistiken des US-amerikanischen Nuclear Energy Institute zeigen, dass die Gestehungskosten für Strom aus KKW sinken, wenn die Kraftwerke grösser werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich SMR tatsächlich auf dem Markt durchsetzen.

Kernkraft in China: Vorreiter einer neuen nuklearen Ära?

China führt zurzeit die Liste der Nationen an, in denen die Kernenergie als eine wichtige Säule der künftigen Energieversorgung angesehen wird. Die chinesische Regierung sieht im Atomstrom und in den Erneuerbaren die Alternativen, um ihre Abhängigkeit vom Kohlestrom zu reduzieren. Dabei ist China ein Spätzünder in Sachen Kernenergie: Das Land nahm erst Anfang der 1990er-Jahre sein erstes Kraftwerk in Betrieb. Heute sind es aber bereits 53 Kernkraftwerke, die Strom für die Versorgung des bevölkerungsreichsten Staates der Erde generieren (Stand Januar 2022).

Tabelle “Under Construction” von Seite 44 im World Nuclear Report 2021
Die Tabelle zeigt, dass derzeit in China mit Abstand am meisten Kernreaktoren gebaut werden. Auch in Indien, Südkorea und weiteren Ländern befinden sich mehrere Projekte in der Realisierungsphase. (Grafik: World Nuclear Report 2021)

China baut massiv aus – Kernkraft und Erneuerbare

Der Anteil der Atomkraft am Strommix von China beträgt derzeit rund 4 Prozent. Momentan sind 18 Kernkraftwerke mit einer Kapazität von 17 GW im Bau, weitere drei Dutzend befinden sich in einem fortgeschrittenen Planungsstadium. Bis 2024 soll Chinas KKW-Park gemäss Einschätzung der Energy Information Administration (EIA) eine Erzeugungskapazität von 58 GW aufweisen. In zehn Jahren könnte China sogar die USA als das Land mit dem weltweit grössten Kernreaktorpark ablösen. Die Vereinigten Staaten verfügten im Sommer 2021 über 93 aktive Reaktoren mit einer Nennleistung von rund 95 GW. China ist auf dem Weg, diese Werte zu übertreffen, zumal in den USA selbst die Anzahl Kernreaktoren seit einigen Jahren rückläufig ist.

Weil China gleichzeitig Solar-, Wind- und auch Wasserkraftwerke zubaut, welche die Leistung der neuen AKW weit übertreffen, wird der Anteil von Atomstrom im chinesischen Netz kaum zunehmen. Bis 2060 plant China, 80 Prozent seines Energiebedarfs mit Erneuerbaren zu decken.

Naher Osten: Kernkraft statt Öl

Ebenfalls auf dem Vormarsch ist die Kernenergie im Nahen Osten. Der Ausbau ist weitgehend auf Länder zurückzuführen, die ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern wollen. 2017 wurden noch 97 Prozent der Stromerzeugung in der Region durch fossile Energieträger erzielt. Die restlichen drei Prozent entfielen auf die Kernkraft und erneuerbare Energiequellen. Die Nahost-Länder wollen durch die vermehrte Nutzung von nuklearer Energie einen Teil der steigenden Elektrizitätsnachfrage infolge des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums decken.

Aufbaupläne in verschiedenen Staaten

Der Iran, der im Jahr 2011 das erste AKW im Nahen Osten in Betrieb nahm, baut bereits sein zweites KKW. Die Anlage mit einer Leistung von 1,8 GW soll voraussichtlich 2026 ans Netz gehen. Pläne zum Bau eines aus zwei Reaktoren bestehenden Neubaus schreiten auch in Jordanien voran. Ebenfalls als neues Mitglied im internationalen Klub der Kernenergie-Nationen will Saudi-Arabien in den nächsten fünfzehn Jahren siebzehn neue Kernkraftwerke bauen.

Mega-Projekt «Barakah»

Am weitesten fortgeschritten sind die Ausbaupläne derzeit aber in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). 2012 begannen die Arbeiten am Kernkraftwerk Barakah, das nach seiner Fertigstellung eine der grössten Kernenergieanlagen der Welt sein wird. Barakah besteht aus vier Reaktorblöcken mit einer Brutto-Leistung von je 1,4 GW. Block 1 ist seit Frühling 2021 in Betrieb, Block 2 befindet sich im Testbetrieb und die Blöcke 3 und 4 stehen noch im Bau. Nach der Fertigstellung wird Barakah mit 5,6 GW mehr Energie produzieren als die Schweizer Kernkraftwerke zusammen (rund 3 GW).

Kernkraft teurer als Photovoltaik

Die Nukleartechnik im KKW Barakah stammt aus Südkorea. Es handelt sich um Druckwasserreaktoren vom Typ APR-1400, die auf eine Laufzeit von 60 Jahren ausgelegt sind. Die Kosten für das Projekt werden auf mehr als 24 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die VAE müssen zudem Mitarbeitende ausbilden und Aufsichtsbehörden aufbauen, was die Kosten weiter erhöht. Der Strom aus dem neuen KKW dürfte damit wesentlich teurer sein als der aus erneuerbaren Energien wie der Photovoltaik.

Kernenergie in der Schweiz und in Europa

Wie sich die Situation der Kernenergie in Europa und in der Schweiz präsentiert, zeigt ein separater Beitrag auf:
Kernkraft in der Schweiz: abschalten oder ausbauen?