Wie erreicht die Schweiz das Netto-Null-Ziel?

Das Klima-Zwischenziel für 2020 hat die Schweiz verpasst. Ein Expertengremium erklärt, in welchen Sektoren es heute noch hapert und welche Massnahmen es braucht, damit wir bis 2050 die Treibhausgasemissionen auf netto null senken können.

7 Min.
Passstrasse, Warnschild für Gefälle, anstelle der Prozent-Angabe lautet die Beschriftung «CO2»

Im Herbst 2017 hat die Schweiz das Übereinkommen von Paris ratifiziert und sich damit zu einem klaren Klimaziel verpflichtet: Der Reduktion der Treibhausgasemissionen auf netto null bis 2050. Das bedeutet, dass die Emissionen in den Sektoren Verkehr, Gebäude, Industrie sowie Landwirtschaft und Abfallbehandlung stark sinken müssen.

Weil sich in einigen Bereichen der Ausstoss von klimaschädlichen Gasen nicht komplett vermeiden lassen wird, müssen zur Kompensation auch Treibhausgase (THG) aus der Luft abgeschieden und gespeichert werden. Nur so kommen wir dem Ziel näher, die Zunahme der THG-Konzentration in der Atmosphäre durch menschliche Aktivitäten zu beenden und die Klimaerwärmung zumindest zu bremsen.

Wo steht die Schweiz heute?

Auf dem Weg zu Netto-Null hat die Schweiz 2020 das erste Zwischenziel, eine Reduktion der THG-Emissionen um 20 % im Vergleich zu 1990, klar verpasst. Entsprechend sind verstärkte Anstrengungen und Massnahmen nötig, um die THG-Emissionen künftig schneller und umfassender zu reduzieren. Wo die Schweiz nun ansetzen muss, um das Klimaziel 2050 zu erreichen, erklärt der «Expert Hub» der neuen Initiative SCENE der ETH-Institutionen (siehe Aufklappelement).

Vier Männer mit Brillen
Der «Expert Hub» von SCENE (von links nach rechts): Prof. Dr. Thomas Justus Schmidt, Leiter Forschungsbereichs Energie und Umwelt, Paul Scherrer Institut; Dr. Björn Niesen, Geschäftsführer Forschungsbereich Energie, Ressourcen & Emissionen, Empa; Dr. Peter Richner, Stellvertretender Direktor Empa; Dr. Tom Kober, Gruppenleiter Energiewirtschaft, Labor für Energiesystemanalysen, Paul Scherrer Institut. (Fotos: SCENE)

Der SCENE Expert Hub gibt Auskunft

Wie geht die Schweiz das Ziel an, Netto-Null bis 2050 zu erreichen?

Die Rahmenbedingungen definiert die Politik, beispielsweise über die Revision des CO2-Gesetzes, die das Parlament in den kommenden Sessionen behandelt. Ein Schritt in die richtige Richtung war die Annahme des Klima- und Innovationsgesetzes (KIG) im Juni 2023. Damit ist klar, dass eine Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung das Netto-Null-Ziel mitträgt. Das Ja zum KIG trägt dazu bei, langfristig stabile Rahmenbedingungen zu schaffen. Diese müssen nun aber bei der Revision des CO2-Gesetzes konkretisiert werden.

Wo genau sind denn noch konkretere Vorgaben nötig?

Im Verkehrsbereich geht es beispielsweise um Flottenziele zu den CO2-Emissionen im Strassenverkehr oder um obligatorische Beimischquoten von nachhaltigen Treibstoffen im Flugverkehr. Im Industriesektor muss der Emissionshandel – im Einklang mit den von der EU geplanten Vorgaben – weiterentwickelt und verschärft werden. Es gibt aber auch grundsätzliche Aspekte, die sektorübergreifend angegangen werden sollten. Das aktuell gültige CO2-Gesetz behandelt die THG-Emissionen abhängig von der Quelle sehr unterschiedlich. Auf Heizöl wird eine Abgabe von 120 Franken pro Tonne CO2 erhoben, bei Diesel sind es nur ein paar Franken, obwohl dieser in seiner chemischen Zusammensetzung praktisch identisch mit Heizöl ist. Weiter muss definiert werden, was mit den Abgaben passieren soll: Sollen sie im Sinne einer Lenkungsabgabe vollständig rückverteilt oder zumindest teilweise in erneuerbare Energie investiert werden?

In welchen Sektoren hapert es mit der Reduktion von Treibhausgas-Emissionen?

Bei der Mobilität haben wir die letzten Jahrzehnte völlig verschlafen. Zwischen 1990 und 2021 gingen die Emissionen nur um 7 % zurück – vor der Coronapandemie lagen sie sogar noch höher als 1990. Eine gewisse Dynamik hat sich bei der individuellen Mobilität durch die Verbreitung von batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen ergeben. Um aber einen effektiven Beitrag zur Emissionsreduktion leisten zu können, muss der für das Aufladen der E-Autos benötigte Strom zusätzlich und erneuerbar erzeugt werden. Grösste Hindernisse für die weitere Marktdurchdringung von Elektrofahrzeugen sind heute die im Vergleich zu Verbrennerfahrzeugen höheren Investitionskosten und die im privaten Bereich oft ungenügende Ladeinfrastruktur.

Mann steckt Kabel vom E-Auto an Laternenpfahl ein
In der Schweiz ist die Ladeinfrastruktur im privaten Bereich oft noch ungenügend ausgebaut, vor allem für Mieterinnen und Mieter. (Foto: Screenshot SRF, Sendung «10 vor 10» vom 22.7.2021)

Gibt es auch erfreuliche Entwicklungen?

Die Sektoren Gebäude und Industrie konnten ihre Emissionen in den letzten 30 Jahren deutlich reduzieren, diese sind aber immer noch substanziell. Bei den Gebäuden sanken die THG-Emissionen von 1990 bis 2021 um 31 %, im Industriesektor um 21 %. Dennoch müssen die Anstrengungen auch hier intensiviert werden, denn wir müssen uns bewusst sein, dass ein Grossteil der bisherigen Einsparungen sogenannte «low hanging fruits» waren. Jetzt gilt es, auch jene Emissionen zu senken, die schwieriger zu vermeiden sind.

Welche Emissionen sind das und welche Ansätze gibt es für die Reduktion?

Neue Gebäude lassen sich heute mit minimalsten THG-Emissionen betreiben, gleichzeitig werden die Renovationsstrategien für bestehende Bauten laufend verbessert. Offen ist aber noch, wie wir die mit der Herstellung von Baustoffen verbundenen THG-Emissionen in den Griff bekommen. Ziel muss es sein, Gebäude und Infrastruktur zu erstellen, ohne nennenswerte Emissionen zu verursachen. Weitere schwer vermeidbare Emissionen entstehen zum Beispiel bei Herstellungsprozessen in der Industrie oder in Kehrichtverbrennungsanlagen. Auch die Emissionen der Landwirtschaft und der Abwasserwirtschaft werden nicht komplett reduziert werden können. Hier helfen wohl nur Negativemissionstechnologien als Kompensationsmassnahme.

Die Emissionen aus dem internationalen Luftverkehr werden im Schweizer Treibhausgasinventar nicht berücksichtigt. Trotzdem sind Ansätze nötig, auch diese Emissionen zu reduzieren. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Der Flugverkehr wird voraussichtlich weiterhin stark wachsen. Für internationale Flüge ist keine direkte Elektrifizierung wie bei den Personenfahrzeugen zu erwarten, weil die aktuell verfügbaren Batterietechniken nicht annähernd genügend Energie zur Verfügung stellen. Zudem sind die Investitionszyklen im Luftverkehr zu langsam, um komplett neue Techniken schnell einzusetzen. Somit werden wir zur Emissionsreduktion auf künstlich hergestellte Treibstoffe wie synthetisches Kerosin angewiesen sein, das mit der heutigen Infrastruktur für die bestehende Flugzeugflotte eingesetzt werden kann. Allerdings sind für die technische Weiterentwicklung und die Skalierung der Produktionsprozesse in den kommenden Jahren beträchtliche Anstrengungen nötig.

Feld mit Solarspiegeln vor zwei Türmen
Das Schweizer Unternehmen Synhelion will bis 2030 die Produktion von synthetischem Flugbenzin so weit ausbauen, dass damit die Hälfte aller Flüge aus der Schweiz versorgt werden könnte. (Screenshot YouTube, siehe Aufklappelement)

Sie haben die Negativemissionstechnologien (NET) angesprochen, die für das Netto-Null-Ziel unverzichtbar sind. Welche dieser Ansätze sind aus heutiger Sicht am vielversprechendsten?

Das ist schwierig zu beantworten, weil es noch erheblichen Forschungsbedarf gibt, insbesondere wegen der Umweltauswirkungen dieser Technologien. Eine kürzlich vom PSI veröffentlichte Studie zeigt, dass in der Forschungsliteratur die Ökobilanzen von NET oft zu wenig genau geprüft wurden. Zudem gibt es offene Fragen bezüglich der Akzeptanz der verschiedenen NET, wenn sie in grossem Massstab eingesetzt werden. Hier wird ein breit abgestützter Diskurs nötig sein, um den richtigen Technologie-Mix für die Schweiz zu bestimmen.

Bisher sind in der Schweiz aufgrund der geologischen Gegebenheiten keine geeigneten Lagerstätten für die langfristige Speicherung von abgeschiedenem CO2 bekannt. Welche Alternativen kommen infrage?

Das CO2 könnte in Länder wie Norwegen oder die Niederlande transportiert werden, wo es sich unter der Nordsee in geeigneten Lagerstätten langfristig speichern liesse. Hier gibt es bereits Erfahrungen und einige geplante Projekte. Es wird sich aber zeigen müssen, ob die künftig verfügbare Lagerkapazität auch den Bedarf decken kann und zu welchen Konditionen die Schweiz ihre Emissionen – in Konkurrenz zu anderen europäischen Ländern – wird einlagern können. Um CO2 im voraussichtlich benötigten Umfang von mehreren Megatonnen pro Jahr exportieren zu können, müssen kostspielige Infrastrukturen wie Pipelines gebaut werden, was eine transeuropäische Koordination erfordert.

Gibt es Alternativen dazu?

Vorstellbar wäre die dezentrale Speicherung des CO2 im Inland. Dabei würde das CO2 entweder chemisch in Abbruchbeton oder geeigneten Gesteinsarten gebunden oder in Form von Kohlestoffpulver als Rohstoff verwendet, beispielsweise in der Bauindustrie. Das aus der Atmosphäre abgeschiedene CO2 wäre damit kein Abfallprodukt, sondern könnte als Rohstoff verwendet werden.

Dunkelgraues Granulat fällt von Förderband
Die Firma «neustark» speichert abgeschiedenes CO₂ durch eine beschleunigte Mineralisierung in Form von Kalkstein in rezykliertem Betongranulat. (Foto: neustark)

Ihre Prognose: Welcher Sektor erreicht in der Schweiz als erster das Netto-Null-Ziel?

Das hängt stark von den Rahmenbedingungen ab, die zusätzlich zum Klimaschutz eine Rolle spielen können – beispielsweise die Versorgungssicherheit. Sicher ist es aber so, dass der Kraftwerkssektor, der schon heute weitgehend emissionsfrei operiert, schon vor 2050 das Klimaziel erreichen kann. Dies auch deshalb, weil allenfalls negative Emissionen erzielt werden, wenn in Biomassekraftwerken das CO2 abgeschieden wird. Auch bei den Haushalten und beim Verkehrssektor können wir die Emissionen relativ schnell signifikant reduzieren, wenn sich Wärmepumpen, energetische Sanierungsmassnahmen und Elektromobilität beschleunigt am Markt etablieren.

 
Bitte E-Mail-Adresse korrigieren.
  • Avatar
    Avatar

    Fabiansk

    Vor 1 Jahr

    Warum spricht hier niemand von den nicht CO2-bedingten Treibhauseffekten des Flugverkehrs? und wie langsam die Beimischquote für sythetische Flugtreibstoffe steigen soll und voraussichtlich wird? und dass man heute «eigentlich» gar nicht mehr fliegen darf, eben weil es heute keine Lösung gibt. Es ist einfach verheerend: Wir sind heute schon auf 420 ppm bei der CO2-Konzentration in der Atmosphäre und nur unter 350 ppm gilt als unbedenklich. Das müsstet ihr ansprechen und nicht die CO2-Entfernungsmethoden (der IPCC spricht übrigens nicht mehr von NET) die vielleicht aber nur vielleicht dereinst in einem hilfreichen Ausmass zur Verfügung stehen werden.

    Bitte E-Mail-Adresse korrigieren.
    Abbrechen
    • Thomas Elmiger

      Vor 1 Jahr

      Der Flugverkehr wird im Beitrag nur kurz behandelt, denn die «Emissionen aus dem internationalen Luftverkehr werden im Schweizer Treibhausgasinventar nicht berücksichtigt». – Wir stimmen Ihnen aber zu, dass dieses Problem gross ist und leider vernachlässigt wird. Gerade heute habe ich hier einen separaten Beitrag dazu veröffentlicht:
      https://www.enex.me/blog/mobilitaet/schaden-flugzeuge-dem-klima-mehr-als-autos

  • Daniel Mayer

    Vor 1 Jahr

    Ich lese nirgends die Bedeutung der Eisenbahn. Abgesehen von gar nicht unterwegs sein oder zu Fuss/Fahrrad ist es die umweltfreundlichste Variante des Transport. Nicht nur vom CO2 aus gesehen. Die Bahn braucht am wenigsten Platz, verursacht keinen Pneuabrieb und somit kein Microplastik und der Rollwiderstand ist am geringsten. Ich finde z.b. die Post sollte unter die Räder genommen werden, da diese immer mehr per Lastwagen statt per Bahn transportiert und dafür ein vorhandener Wald in Deutschland kauft als Ausgleich und dann gross protzt, sie sind CO2 neutral.

    Bitte E-Mail-Adresse korrigieren.
    Abbrechen