Die Sonnenblumen­gesellschaft als sicherster Weg in die Zukunft

Speicherlösungen gelten als entscheidender Faktor für die Energiewende. Eine Studie der Empa schlägt eine Alternative vor: Unsere Aktivitäten nach der Sonne richten und Solarenergie direkt verbrauchen.

8 Min.
Sonnenblume vor Batterie

So viel Sonnenenergie wie möglich nutzen – das ist einer der Schlüssel für den Umstieg auf eine erneuerbare Energieversorgung. Doch was tun, wenn die Sonne nicht oder nur schwach scheint, also nachts, bei schlechtem Wetter oder im Winter? Die gängige Antwort auf diese Frage lautet: Energiespeicher bauen. So lassen sich Ertrag und Verbrauch entkoppeln und unsere 24/7-Gesellschaft auch bei wenig Sonnenschein am Laufen halten.

Besser als Speicher: die Sonnenblumengesellschaft

Der Ausbau von Energiespeichern hat zwei Haken, welche die Energiewende bremsen. Erstens benötigt die Herstellung der Speicher selbst viel Energie und zweitens muss zusätzlich Energie produziert werden, um die Speicherverluste im Betrieb auszugleichen. Energie, die dann beispielsweise für die Produktion von Photovoltaikanlagen fehlt. Eine Studie der Empa belegt diesen Zusammenhang: Je mehr Speicher errichtet werden, desto länger dauert der Umbau des Energiesystems und desto mehr Treibhausgase werden emittiert.

Für eine schnellere Transition mit weniger Emissionen braucht es eine globale Verhaltensänderung der Gesellschaft. Die Menschheit muss lernen, ihren Verbrauch dem Ertrag der Sonne anzupassen, damit möglichst wenig Solarenergie zwischengespeichert werden muss. Wir müssen unsere Aktivitäten wie eine Sonnenblume nach der Sonne ausrichten – also dann Strom verbrauchen, wenn auch welcher produziert wird.

Reihen von Batterie-Modulen, durch organge Kabel verbunden
Die Produktion von Speichern wie hier von Elektroauto-Batterien ist energieintensiv und führt zu zusätzlichen CO₂-Emissionen. (Foto: Shutterstock/Smile Fight)

Verbrauch nach der Sonne richten

Wie könnte eine solche «Sonnenblumen-Gesellschaft» aussehen? Die Empa-Studie skizziert eine Welt, in der die Verbraucher wie Industrie, Verkehr und Haushalte ihre energieintensiven Tätigkeiten so weit wie möglich in die Mittagszeit und den Sommer legen. In der Nacht und im Winter reduziert man die Aktivitäten dagegen weitgehend. Weil so die Solarenergie meist direkt verbraucht wird, sind viel weniger Speicher nötig als beim heutigen Energiekonsum.

Speicherbau belastet das Klima

Behält die Menschheit ihre heutigen Gewohnheiten bei, müssten der Untersuchung zufolge etwa 60 % der Solarenergie gespeichert werden. Die dafür nötigen Speicher wären so gross, dass sie drei Wochen lang den Energiebedarf der gesamten Welt decken könnten. Der Bau dieser Speicher würde selbst in einem optimistischen Szenario so viel Energie verschlingen und Treibhausgase ausstossen, dass das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Übereinkommens mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 50 % überschritten wird. Bei einem Energiesystem ohne Speicher liesse sich die Wahrscheinlichkeit gemäss den Berechnungen der Studienautoren im besten Fall auf 3 % reduzieren. Ziel der Sonnenblumengesellschaft ist es, möglichst nahe an dieses Minimum zu kommen.

Interview mit Studienautor Harald Desing

Wie eine Sonnenblume leben und dann aktiv sein, wenn die Sonne scheint – geht das überhaupt? Wir haben mit Harald Desing, Empa-Forscher und Co-Studienautor, über die Idee der Sonnenblumengesellschaft gesprochen.

Junger Mann mit Kurzhaarfrisur, bunt gestreiftem Hemd und dunkelblauem Sakko lacht uns an
Studienautor Harald Desing arbeitet als Post Doc an der Empa im Bereich Technologie und Gesellschaft. (Foto: Empa)

Immer wieder liest man, Energiespeicher seien ein Schlüssel zur erfolgreichen Dekarbonisierung des Energiesystems. Sie sehen das anders – warum?
Harald Desing: Ganz ohne Speicher wird es nicht gehen. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass jeder zusätzliche Speicher die Energiewende weiter verzögert, zusätzliche Kosten verursacht und Materialien benötigt. Bau und Betrieb von Speichern brauchen sehr viel Energie, die dann für den Bau von Solaranlagen fehlt. Das führt dazu, dass fossile Energieträger länger verbrannt werden müssen und sich insgesamt mehr CO2 in der Atmosphäre ansammelt.

Welche Speichertypen verursachen bei ihrer Herstellung viel CO2?
Wichtig sind hier nicht nur die Emissionen in der Herstellung, sondern die Auswirkungen auf die gesamte Transition. Und da zeigt sich, dass alle Speichertypen ungefähr gleich abschneiden. Batterien zum Beispiel verbrauchen bei der Herstellung sehr viel Energie und verursachen damit CO2-Emissionen, dafür haben sie kaum Verluste im Betrieb. Bei synthetischen Treibstoffen ist es genau umgekehrt: Der Bau der Infrastruktur benötigt wenig Energie, die Herstellung der Treibstoffe hingegen sehr viel. Pumpspeicherkraftwerke liegen etwa dazwischen und schneiden noch am besten ab – doch ihr Ausbaupotenzial ist geographisch begrenzt. Zudem greifen sie massiv in fragile Ökosysteme ein und brauchen für den Bau sehr viel Zement, dessen CO2-Emissionen sich derzeit kaum vermeiden lassen.

Als Alternative zum Ausbau von Speichern schlagen Sie die Sonnenblumengesellschaft vor. Wie stellen Sie sich das genau vor?
Die Idee der Sonnenblumengesellschaft ist der logische Umkehrschluss: Wenn Speicher einen so grossen Einfluss auf die Emissionen haben, dann müssen wir sie möglichst vermeiden. Das geht in manchen Bereichen recht einfach. Zum Beispiel lassen sich Wärmepumpen grösstenteils über die Solaranlage auf dem Dach direkt betreiben. Auch die Waschmaschine kann meist während der Sonnenstunden laufen, mobile Geräte und E-Fahrzeuge können ebenfalls überwiegend mit der Sonne geladen werden. Gleiches gilt für manche Prozesse in der Industrie, die nicht konstant laufen – auch sie lassen sich auf den Solarertrag ausrichten.

Diverse Elektrogeräte, dekorativ arrangiert, durch grosse Fenster von der Sonne beschienen (Lautsprecher, Mikrowelle, Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher, Drucker, Laptop, ...)
Wenn wir die Verbraucher im Haushalt nach der Produktion der eigenen Photovoltaikanlage ausrichten, benötigen wir keine oder nur wenig Speicherkapazität. (Illustration: Shutterstock/Interior Design)

Im Winter würde das gesellschaftliche Leben durch die verkürzte solare Ertragsphase stark reduziert. Wie beurteilen Sie die soziale Akzeptanz eines solchen Vorhabens?
Etwa 90 % der Weltbevölkerung leben in Gegenden, wo der Unterschied in der Sonneneinstrahlung zwischen Sommer und Winter klein ist. Dort kann sich das gesellschaftliche Leben ähnlich verteilen wie bisher. In unseren Breiten und weiter in Richtung der Polregionen werden die Unterschiede immer stärker. Eine gewisse Anpassung an den Rhythmus der Jahreszeiten ist daher wohl unvermeidbar. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass in diesen Gebieten auch recht viele andere erneuerbare Energien verfügbar sind. Die Schweiz und Norwegen haben beispielsweise eine stark ausgebaute Wasserkraft, daneben gibt es viel Windenergie in Nordeuropa sowie Biomasse in Kanada, Sibirien und Skandinavien. Diese Alternativen zur Solarenergie kann man nutzen, um das «Winterloch» abzuschwächen. Auch überregionale Stromnetze können ausgleichend wirken und Solaranlagen an Fassaden auf den Winterertrag optimiert werden. Trotzdem wird es notwendig sein, energieintensive Prozesse vermehrt im Sommer durchzuführen und im Winter mehr Ruhe einkehren zu lassen. Für mich persönlich hat das in einer immer hektischer werdenden Zeit durchaus auch positive Aspekte.

Eine gewisse Anpassung an den Rhythmus der Jahreszeiten ist wohl unvermeidbar.

Harald Desing, Empa

Die industrielle Produktion ist oft auf einen 24-Stunden-Betrieb ausgerichtet. Kann sie rentabel sein, wenn sie «nur» während solaren Ertragszeiten produziert?
Energiekosten sind für Betriebe in der Nacht meist günstiger als am Tag, also werden vielerorts energieintensive Prozesse nachts gefahren. Allerdings sind wenige Anlagen voll ausgelastet, daher lassen sich unproduktive Zeiten problemlos in die dunklen Stunden verschieben. Tatsächlich geschieht dies wegen der hohen Energiekosten bereits heute: Firmen, die schon eine Solaranlage auf dem Dach haben, strukturieren ihre Arbeitsabläufe so um, dass der Solarertrag optimal zur Produktion genutzt werden kann. Ich bin überzeugt, dass unter geänderten Rahmenbedingungen solare Industrieproduktion rentabel werden kann und wird. Dazu kommt, dass Schichtarbeit erwiesenermassen gesundheitsschädlich ist und zu hohen gesellschaftlichen Folgekosten führt – auch diese lassen sich in einer Sonnenblumengesellschaft reduzieren.

Auch Mobilität ist ein Konsumgut, das wir heute fast rund um die Uhr nutzen. Wie finden wir in diesem Bereich eine Übereinstimmung mit den Sonnenstunden?
Unsere Mobilität ist eigentlich schon recht gut an die Sonne angepasst: Sie konzentriert sich vor allem auf den Tag. An Arbeitstagen führt der Pendelverkehr zu Spitzen am frühen Morgen und am Abend. Diese liessen sich zum Beispiel durch flexiblere Arbeitszeiten, Anreize für arbeitsnahes Wohnen und mehr Homeoffice reduzieren und noch stärker an der Sonne ausrichten. Ein weiterer Ansatz ist der Umstieg auf den öffentlichen Verkehr, denn dieser benötigt weniger Energie als die individuelle Mobilität. Zudem müssen Züge, Trams und Trolleybusse keine Speicher mitführen. Natürlich muss in den Randzeiten und in der Nacht der Strom für ihren Betrieb entweder aus Wasserkraft oder Biomasse kommen oder gespeichert werden. Die benötigte Menge an Speicherkapazität und gespeichertem Strom ist aber wesentlich kleiner als bei der individuellen E-Mobilität.

Moderner Trolleybus unter einem Netz von Fahrleitungen (Linie 83)
Trolleybusse benötigen im Gegensatz zu batteriebetriebenen Fahrzeugen keine Speicher. Damit spart man sich die Produktion von emissionsintensiven Batterien. (Foto: VBZ)

Kann die Digitalisierung die Transition zu einer Sonnenblumengesellschaft erleichtern?
Ja, sie kann unterstützen. In einer Sonnenblumengesellschaft sind zwei Fragen entscheidend: Wann ist Energie verfügbar und wann wird sie gebraucht? Direkt genutzte Sonnenenergie wird günstig sein, Energiebezug aus Speichern und anderen erneuerbaren Energien hingegen teuer. Digitale Smart Meter zum Beispiel erlauben zeitlich hoch aufgelöste Messungen, was eine Grundvoraussetzung für die Umsetzung variabler Tarife ist. Solche Tarife können als Anreiz dienen, um das Verbrauchsverhalten zu steuern.

Es braucht eine Vorhersage, wann Sonnenstrom in welchen Mengen verfügbar sein wird.

Harald Desing, Empa

Was zudem aus meiner Sicht entscheidend sein wird, ist eine Angebotsprognose, wie wir es heute vom Wetterbericht kennen. Es braucht eine Vorhersage, wann Sonnenstrom in welchen Mengen verfügbar sein wird. Das erlaubt beispielsweise die Planung von energieintensiven Prozessen in der Industrie.

Braucht es auch staatliche Vorgaben oder finanzielle Anreize, um die Verbraucher zu einer Verhaltensänderung zu bewegen?
Stellen Sie sich vor, jedes Haus hätte Solaranlagen auf geeigneten Dach- und Fassadenflächen. Dieser Strom wäre mehr oder weniger gratis, wohingegen sich Netzstrom mehr und mehr verteuern würde. Die Einspeisung ins Netz würde während der Sonnenstunden fast keinen Ertrag bringen, während sie in Randzeiten sehr lukrativ wäre und damit Anlagen an Ost- und Westfassaden rentabel machen würde. Ob Privatperson oder Unternehmen: Jeder würde bei dieser Ausgangslage versuchen, das Optimum aus der eigenen Gebäudehülle herauszuholen und auch den Bedarf dementsprechend anpassen.

Um dahin zu kommen, könnte ich mir ein Solarausbau-Programm vorstellen: steuerfrei, unbürokratisch, aber verpflichtend. Zum Beispiel könnten Investitionen in Solaranlagen von der Steuer absetzbar werden oder der Staat organisiert und finanziert das Ganze. Dabei bekämen jede Bürgerin und jeder Bürger eine bestimmte Solarfläche zugeteilt – ein Schritt Richtung bedingungslose Grundversorgung. Vorstellbar ist auch, dass Pensionsbeiträge in Solaranlagen statt in Immobilien angelegt werden. Gefragt sind jedenfalls innovative Ideen.

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  • Jürg Oeschger

    Vor 11 Monaten

    Als Pensionierte Personen mit Fotovoltaik ohne Speicher geht das ganz gut :
    Wir waschen Geschirr, Bettwäsche etc. tagsüber und benutzen die Wärmepumpe ebenso mehr am Tag. Ob unsere Stromrechnung stark reduziert ist, habe ich nicht berechnet.

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  • Stefan M. B.

    Vor 11 Monaten

    Ich warte auf den Moment, wenn Strom in der Nacht teurer ist als am Tag. Momentan ist dies noch nicht so, also sind wir noch weit weg von einem Speicherproblem. Zuerst müssen wir nun einfach mal richtig anfangen, Photovoltaik auf alle passenden Dächer und Fassaden zu bauen.

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