Kühlen und Heizen: Wie Alltagspraktiken und überliefertes Wissen helfen
Ist es zu heiss oder zu kühl, greift auch der moderne Mensch immer mal wieder auf Alltagspraktiken und überliefertes Wissen zurück. Das ist nicht in jedem Fall ein Problem – sondern kann im Zusammenspiel mit energieeffizienten Heiz- und Kühlsystemen auch eine Chance sein.
Intelligente Technologien sind ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu mehr Energieeffizienz. Doch auch in einem modernen Umfeld greifen Menschen nicht nur auf institutionalisiertes Wissen zurück. Sie nutzen auch Alltagspraktiken oder Erfahrungswissen, um mit grosser Hitze oder Kälte zurechtzukommen. Solche Laienkompetenzen würden aber oft übersehen oder ausschliesslich als problematisch betrachtet, kritisieren Rex Martin von der australischen Monash Universität und Simon Peter Larsen von der Dänischen Energieagentur.
Praktisches Wissen soll auch als Chance betrachtet und in die Entwicklung nachhaltigerer Kühl- und Heizmethoden einbezogen werden.
Die Grundannahme scheine zu sein, dass der Mensch uninformiert und ineffizient handle und aufgeklärt werden müsse. Die beiden Forscher plädieren deshalb für eine differenziertere Sicht: Praktisches Wissen soll auch als Chance betrachtet und in die Entwicklung nachhaltigerer Kühl- und Heizmethoden einbezogen werden.
Strategien des Kühlens und Wärmens sind auch kulturell verankert
Welche Rolle aber spielt Alltagswissen im Umfeld intelligenter Kühl- und Heiztechnologien? Wie prägen persönliche Erfahrungen und Laienkompetenzen das Energieverhalten im Haushalt? Das haben Martin und Larsen in ihrer im Februar 2024 im Fachjournal Energy Research & Social Science publizierten Studie untersucht.
Hygge in Dänemark
Die Forscher richteten den Blick dabei auf zwei Länder, in denen Strategien des Kühlens und Heizens nicht zuletzt auch in der nationalen Identität verankert sind: Australien und Dänemark. So wurde in den vergangenen Jahren zum Beispiel viel über die dänische Hygge geschrieben: Gemeint ist eine Lebensweise, in der das Schaffen einer gemütlichen Atmosphäre einen zentralen Platz einnimmt. Für Wärme und Komfort sorgen neben modernen Bodenheizungen und automatisierten Lüftungssystemen darum auch flauschige Decken und dicke Pullover, heisse Getränke, warme Suppen, bequeme Hausschuhe und Kerzenlicht.
Cool bleiben in Australien
Ebenso gehört in Australien der Umgang mit der Sommerhitze zur Kultur des Landes. Im Gegensatz zu Dänemark, so stellen Martin und Larsen fest, beschränken sich die Komfortmethoden dort aber nicht nur auf das Zuhause: So schliesse man als Antwort auf hohe Temperaturen zwar zum Beispiel tagsüber die Vorhänge und Jalousien im Haus. Vor allem würden viele Aktivitäten nach draussen verlegt: Die Menschen grillieren und essen im Garten, sie treffen sich am Strand oder kühlen sich im Schwimmbad ab, sie geniessen ein kühles Getränk.
Für ihre länderübergreifende Analyse haben Martin und Larsen je eine Studie im australischen Canberra sowie im Grossraum Kopenhagen durchgeführt und dann zusammengenommen. Die Forscher besuchten dazu insgesamt fast 30 Haushalte. Sie führten Interviews durch und beobachteten das Verhalten der Studienteilnehmenden. Sowohl in Australien als auch in Dänemark setzt man heute stark auf intelligente Technologien. Die Wissenschaftler fragten darum nach der Nutzung und dem Verständnis moderner Kühl- und Heizmethoden wie Solaranlagen beziehungsweise Klimaanlagen oder Fernwärmesysteme wie auch nach Alltagspraktiken und Erfahrungswissen.
Praktisches Wissen ergänzt und interagiert mit moderner Technologie
Das Ergebnis: Sowohl in Canberra als auch in Kopenhagen greifen Menschen trotz moderner Technologie weiterhin auch auf praktisches Wissen, ihre Sinne und tradierte Strategien zurück, um mit Hitze oder Kälte umzugehen. Wie solche informellen Fähigkeiten intelligente Kühl- und Heizsysteme ergänzen oder mit ihnen interagieren, demonstrieren Martin und Larsen anhand von Gesprächsauszügen beziehungsweise konkreten Beispielen der Interviewten.
Für ihre Studie unterteilen die Forscher praktisches Wissen in eine kognitive und eine körperliche Dimension – auch wenn sich die beiden Formen in der Realität oft überschneiden. Kognitives beziehungsweise erfahrungsbasiertes Wissen bedeutet, dass man sich mit den temperaturbezogenen Besonderheiten seines Zuhauses auskennt oder um die Luftqualität in der Gegend weiss. Die Wissenschaftler nennen diese Form des Verstehens auch Know-how. Man könnte hier auch von Praktiken des gesunden Menschenverstandes sprechen. Verkörpertes Wissen dagegen hängt mit dem Muskelgedächtnis oder sensorischem Feedback zusammen. Das bedeutet, dass wir die Temperaturbedigungen in der Umgebung vor allem durch Berühren, Sehen oder Fühlen wahrnehmen und einordnen.
Heiz- und Kühlprobleme erkennen und Situationen einordnen
Verkörpertes Wissen scheint gemäss der Studie insbesondere dann nützlich zu sein, wenn eine aktuelle Situation eingeordnet oder unmittelbare Probleme gelöst werden müssen:
Ein Studienteilnehmer aus Canberra berichtete über Massnahmen während der sommerlichen Buschfeuer. Der Geruch von Rauch habe ihn veranlasst, auf die Klimaanlage zu verzichten, welche Luft von draussen ins Haus bläst. Er habe stattdessen Standventilatoren benutzt, sich aber auch auf eine simple Strategie seiner Mutter besonnen: Im Hochsommer habe diese jeweils gleich bei Sonnenaufgang jeweils alle Vorhänge im Haus zugezogen. Das Halbdunkel sei zwar zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, so der Interviewte, aber als Massnahme sehr effektiv.
Mehrere Teilnehmende aus Canberra entdeckten durch den Rauch undichte Stellen an Fenstern und Türen, die sie kurzfristig mit Schaum oder Klebeband abdichteten. Sie äusserten Absichten, die betreffenden Bauteile mittelfristig komplett zu erneuern.
Auch einer anderen Teilnehmerin diente sensorisches Feedback nicht nur dazu, sich mit dem intelligenten Heizsystem in ihrer neuen Wohnung vertraut zu machen – sondern auch um allfällige Defekte festzustellen. Erst als sie barfuss das Badezimmer betreten habe, sei ihr zum Beispiel aufgefallen, dass sich die Fliesen kalt anfühlten beziehungsweise die Heizung im Bad nicht einwandfrei funktionierte.
Am Morgen konsultiere er jeweils nicht nur die Wettervorhersage seiner App, sagt ein weiterer Gesprächspartner. Er gehe auch kurz auf die Terrasse hinaus, um die Temperatur zu fühlen. Diese physische Erfahrung beeinflusse seine Kleiderwahl ebenso wie die objektive Temperaturangabe.
Know-how: Herausforderungen erkennen und frühzeitig intervenieren
Know-how dient dagegen eher dem Verständnis von Situationen und dem vorausschauenden Handeln, wie Martin und Larsen sagen. Es könne helfen, Zeiten hoher Stromnachfrage gut zu bewältigen, mit ungewöhnlichen Wetterereignissen umzugehen oder Hitzewellen energieeffizient zu überstehen.
Für konstante Temperaturen zu Hause habe er früher die Thermostate im Haus selbst einstellen müssen, erzählt ein dänischer Studienteilnehmer. Im kürzlich renovierten Haus ist die Heizungssteuerung nun automatisiert mit Sensoren und Heizplänen. Am Morgen vor der Geburtstagsfeier seines Sohnes habe er jedoch für einmal wieder manuell die Temperatur gesenkt. Selbst ein intelligentes Heizsystem hätte nicht voraussehen können, dass es am Abend sonst schnell zu warm geworden wäre mit so vielen Gästen.
Ein anderer Interviewter besinnt sich trotz – oder wegen – seiner modernen Fussbodenheizung wieder auf altbewährte Methoden. Im Gegensatz zu den einstigen Heizkörpern an der Wand, die sich jeweils sehr schnell aufgewärmt und abgekühlt hätten, dauere eine spürbare Temperaturveränderung nun bis zu 24 Stunden, berichtet der Studienteilnehmer. Warme Pullover beziehungsweise regelmässiges Lüften hälfen dabei, die Umstellung zu überbrücken.
All diese Beispiele zeigen den beiden Forschern: Alltagspraktiken und Erfahrungswissen können auch im Umfeld intelligenter Technologien fortbestehen oder erneut hervorgeholt werden. Verkörperte Kenntnisse können formales Wissen nuancieren, oder sie werden durch dieses verifiziert und konzeptualisiert.
Am Beispiel der Geburtstagsfeier werde auf anschauliche Weise Erfahrungswissen mit Weitsicht kombiniert, schreiben Martin und Larsen. Das alles bestätigte nicht nur die Beständigkeit solch individuellen und informellen Wissens. Es zeige auch, wie Menschen ihre Fähigkeiten geschickt an neue Umstände und Bedürfnisse anpassten.
Neue Technologien werden nicht einfach passiv übernommen
Alltagswissen und persönliche Erfahrung würden also nicht einfach durch intelligente Systeme verdrängt, kommen die beiden Forscher zum Schluss. «Neue Technologien werden nicht einfach passiv übernommen.» Solange Laienkompetenzen aber übersehen oder bagatellisiert würden, könnten technologische Massnahmen oder institutionalisiertes Wissen kaum ihr Potential entfalten.
Nachhaltigere Kühl- und Heizmethoden sollten individuelle und informelle Fähigkeiten stärker einbeziehen.
Nachhaltigere Kühl- und Heizmethoden sollten darum nicht einfach auf einem technologischen und uniformen Ansatz basieren, sondern auch individuelle und informelle Fähigkeiten stärker berücksichtigen. Auf diese Weise würden nicht zuletzt Haushalte stärker in die Bemühung einbezogen, die Energienachfrage zu reduzieren oder verlagern. Dazu müsse das Wissen und die Erfahrung von Laien aber besser verstanden und vor allem ernster genommen werden.
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