Automatisiertes Fahren: Heilmittel mit Nebenwirkungen

In einem Punkt sind sich die Experten einig: Autonomes Fahren wird sich durchsetzen. Wann und wie es unsere Mobilität verändern wird, ist aber noch offen. Und: Neben vielen potenziellen Vorteilen hat die Sache auch den einen oder anderen Haken. Denn obwohl der Individualverkehr effizienter wird, ist gleichzeitig mit einer Zunahme zu rechnen.

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Selbstfahrende Autos? Super Sache! Keine Fahrprüfungen mehr. Keine Staus mehr. Keine Unfälle mehr. Dafür ein Nickerchen machen auf dem Weg zur Arbeit oder noch schnell die Präsentation fertigstellen. Die Digitalisierung der Mobilität tönt angesichts der heutigen Herausforderungen im Verkehrsbereich verheissungsvoll. Doch ist das automatisierte Fahren wirklich ein Allheilmittel? Zwei Studien zeigen, wie das «Medikament» tatsächlich wirkt und welche «Nebenwirkungen» es haben könnte.

Effizienter unterwegs sein

«Abschätzungen der ökonomischen Folgen der Digitalisierung in der Mobilität» lautet der etwas sperrige Titel einer Studie, die neben anderen Faktoren auch das autonome Fahren analysiert. Die Untersuchung des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) nennt beispielsweise die zu erwartenden Zeitkostenersparnisse als wesentlichen Vorteil des automatisierten Fahrens. Wer nicht selbst am Steuer sitzen muss, kann die Zeit im Fahrzeug produktiv nutzen. Der Arbeitsweg wird zur Arbeitszeit, das Auto zum Büro. Verglichen mit dem konventionellen Fahren kann man so gemäss der Studie 30 bis 70 Prozent Zeitkosten einsparen.

Leerfahrten als Nebenwirkung

Der Arbeitsweg wird indes nicht nur produktiver, sondern dauert tendenziell auch weniger lang. Ein selbstfahrendes Auto kann den Passagier vor dessen Haustüre abholen und direkt am Arbeitsort wieder absetzen. Die Tür-zu-Tür-Zeit reduziert sich, denn die Suche nach einem Parkplatz erledigt das Fahrzeug anschliessend selbständig. Damit verbunden ist aber gleichzeitig eine unerwünschte Nebenwirkung: die Leerfahrten. Gemeint sind damit jene Fahrten, welche die selbstfahrenden Autos ohne Insassen absolvieren. Eine Studie der Beratungsfirma EBP im Auftrag des Schweizerischen Städteverbands und weiterer Partner geht davon aus, dass diese Leerfahrten zu Mehrverkehr führen. Gemäss der Untersuchung mit dem Titel «Einsatz automatisierter Fahrzeuge im Alltag – Denkbare Anwendungen und Effekte in der Schweiz» dürfte das autonome Fahren mit zunehmender Verbreitung also zu mehr statt zu weniger Verkehr führen.

Sind autonome Fahrzeuge miteinander vernetzt, können sie Kolonnen mit kleineren Abständen bilden. (Illustrationen: metamorworks/Shutterstock.com)

Verkehrsnetz wird leistungsfähiger

Dabei hat das autonome Fahren eigentlich das Potenzial, mehr Kapazität auf den Strassen zu schaffen. Je autonomer und vernetzter die Fahrzeuge sind, desto mehr von ihnen können die vorhandene Infrastruktur nutzen, indem sie in Kolonnen mit verringertem Abstand verkehren. Die EBP-Studie geht davon aus, dass selbstfahrende Fahrzeuge die Leistungsfähigkeit des Strassennetzes so verbessern. Auf Autobahnen rechnet die Studie mit einer Erhöhung um 10 bis 30 Prozent, in der Stadt bis 20 Prozent. Die Höchstwerte lassen sich indes nur erreichen, wenn sämtliche Fahrzeuge vollautomatisiert und vernetzt unterwegs sind – bis dahin dürfte es noch etliche Jahre dauern.

Für Grosspapa und Enkelin

Eine weitere Chance des autonomen Fahrens ist, dass der motorisierte Individualverkehr so für neue Nutzergruppen zugänglich wird. Ein autonomes Fahrzeug bringt Kinder und Jugendliche genauso ans Ziel wie ihre betagten Grosseltern. Ältere Menschen dürften nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung eine stark wachsende Nutzergruppe sein. Daneben profitieren auch Menschen mit eingeschränkter Mobilität davon, dass das Auto nicht mehr selbst gelenkt werden muss. Die Verfügbarkeit des motorisierten Individualverkehrs für neue Nutzergruppen wird dabei unweigerlich auch die Nachfrage erhöhen und damit zu Mehrverkehr führen.

Kollektiv statt individuell reisen

Die beschriebenen Effekte könnten gemäss der Untersuchung von EBP dazu führen, dass sich das automatisierte Fahren erheblich auf Klima, Umwelt und Ressourcen auswirkt, weil es Mehrverkehr generiert. Als zwingend nötige Gegenmassnahme identifiziert die Studie die Förderung von «Ride-Sharing» (Fahrgemeinschaften). Je mehr Insassen in einem Auto sitzen, desto weniger Fahrzeuge sind unterwegs und desto geringer fallen folglich die Auswirkungen auf die Umwelt aus. Die Studienautoren sind der Meinung, dass es regulatorische Massnahmen brauchen wird, um das Ride-Sharing attraktiver zu machen. Beide Studien zeigen jedenfalls klar, dass autonomes Fahren das Verkehrsaufkommen eher erhöht als reduziert.

Mögliche Nebenwirkung: Weil das autonome Fahren so attraktiv ist, führt es zu Mehrverkehr. (Foto: Mikechie Esparagoza/Pexels)

Wird die Mobilität durch autonome Fahrzeuge sicherer?

Immerhin, mag nun manch einer einwenden, erhöht das autonome Fahren doch die Sicherheit auf unseren Strassen! Auch diesem Aspekt ist die EBP-Studie nachgegangen. Die Ergebnisse zeichnen ein differenziertes Bild, denn die Verkehrssicherheit hängt vom Automatisierungsgrad der Fahrzeuge ab. Bei den Autonomiestufen 1 und 2, bei denen Fahrer von Assistenzsystemen unterstützt werden, aber grundsätzlich noch immer die Hände am Steuer haben, wird das Fahren sicherer. Stufe 2 entspricht dem heute bereits etablierten Standard mit Assistenzfunktionen wie automatischem Einparken oder Spurhalten. Kritisch beurteilt die Untersuchung dagegen die Verkehrssicherheit auf Stufe 3, wo der Fahrer das Auto nicht mehr konstant überwachen, aber in gewissen Situationen eingreifen muss. Dabei besteht die Gefahr, dass der Fahrzeugführer dies nicht in der vorgesehenen Zeit schafft – ein latentes Sicherheitsrisiko.

Autonom vs. konventionell

Ab Automatisierungsstufe 4, bei der das System dauerhaft das Fahrzeug führt, sind der Untersuchung zufolge dann eindeutige Sicherheitsgewinne zu erwarten. Dies aber nur in der Summe, denn in gewissen Bereichen könnte sich die Sicherheit auch reduzieren. Mit der zunehmenden Automatisierung gewisser Fahrzeuge ergibt sich nämlich das Problem des sogenannten Mischverkehrs. Der Begriff beschreibt eine Situation, in der neben autonom agierenden Fahrzeugen auch konventionelle Fahrzeuge sowie Velofahrer, Fussgänger oder auch Elektroroller unterwegs sind. Solcher Mischverkehr könnte vermehrt zu Konflikten bzw. Unfällen zwischen den verschiedenen Typen von Verkehrsteilnehmern führen.

Fussgängerinnen, Velofahrer, Autos: Auch in Zukunft werden verschiedene Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen. (Foto: Yanis Meddour/Unsplash)

Vermeintliches Allheilmittel

Automatisiertes Fahren ermöglicht eine effizienter nutzbare Reisezeit, öffnet den motorisierten Individualverkehr für neue Nutzergruppen und erhöht mit zunehmender Verbreitung die Sicherheit. Gleichzeitig werden diese Verheissungen wohl auch zu Nebenwirkungen führen. Leerfahrten und Mehrverkehr sowie die daraus folgenden Zusatzbelastungen für die Umwelt sind ebenso unerwünscht wie eine Zunahme von Unfällen im gemischten Verkehr der Zukunft. Dazu kommen zahlreiche weitere Vor- und Nachteile, welche die Digitalisierung der Mobilität mit sich bringt. Eines zeigen die erwähnten Studien jedenfalls deutlich: Das Verkehrssystem der Zukunft mag smart, vernetzt und effizient sein – ein Allheilmittel ist es aber nicht. Die überlastete Infrastruktur und das Klima bleiben Patienten mit umfassendem Therapiebedarf.