Bidirektional laden – wann wird das Potenzial in der Schweiz genutzt?

Elektroautos sind grosse Batterien auf vier Rädern. Doch erst das bidirektionale Laden macht ihr volles Potenzial nutzbar. Ein Beispiel aus den Niederlanden und Initiativen aus der Schweiz zeigen die Möglichkeiten auf.

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E-Auto an Ladestation

Wenn sogar der König sich für E-Auto-Ladestationen interessiert, muss da etwas Grosses vor sich gehen. Und tatsächlich war die Station, die in Anwesenheit von König Willem-Alexander im niederländischen Utrecht 2019 in Betrieb genommen wurde, nur die erste von fast 500 bidirektionalen Stationen, die heute in der Region in Betrieb sind.

König Willem-Alexander (Mitte) bei der Inbetriebnahme der ersten bidirektionalen Ladestation in Utrecht. Die niederländische Stadt ist die erste weltweit, die ein flächendeckendes bidirektionales Ladenetz errichtet. Der abgebildete Renault ZOE ist hierzulande ab Werk nicht bidirektional. (Foto: We Drive Solar)

Bidirektionale Pioniere in Utrecht

Die Stationen, die Teil eines Carsharing-Netzwerks sind, erlauben, Fahrzeuge mit Solarstrom zu laden und diesen wieder ins Netz einzuspeisen. Die viertgrösste Stadt der Niederlande wird damit zur Pionierregion, die eine der grossen Herausforderungen der Energiewende löst: Strom aus erneuerbaren Quellen nicht nur herzustellen und zu nutzen, sondern auch zu speichern.

Warten auf neue Standards in der Schweiz

Weder im realen, noch im übertragenen Sinn gibt es in der Schweiz ein Utrecht. Bidirektionales Laden ist hierzulande noch nicht angekommen. Dies liegt zum einen an der «Hardware». Noch unterstützen nur wenige Fahrzeuge bidirektionales Laden. Bislang waren es vor allem asiatische Hersteller, da der CHAdeMO-Ladeanschluss aus Japan standardmässig bidirektional ausgelegt ist und dort die Funktion in Fahrzeugen sogar Pflicht ist. Der Nissan Leaf kann deshalb schon seit 2010 Strom an die Ladestation abgeben. Nun wollen aber auch andere Hersteller nachziehen, etwa der VW-Konzern, dessen Fahrzeuge ab 2023 bidirektional funktionieren sollen. Das Ziel ist, das CCS-Protokoll, das westliche Pendant von CHAdeMO, um diese Funktionalität zu erweitern. Im Carsharing-System von Utrecht sind unter anderem Fahrzeuge von Hyundai im Einsatz, die über ein modifiziertes CCS-System bidirektional geladen werden.

Szenarien für bidirektionales Laden in der Energiewende

Ein weiterer Grund dafür, dass noch fast niemand hierzulande bidirektional lädt, liegt in der bislang noch wenig attraktiven Anwendung. Also der Antwort auf die Frage, ob es sich lohnt, Strom aus seiner E-Auto-Batterie abzugeben. Grundsätzlich sind mehrere Szenarien denkbar, alle sind für die Energiewende relevant:

  • Vehicle to Home (V2H), indem der Batteriestrom als Heimspeicher oder zur Notstromversorgung dient.
  • Vehicle to Building (V2B), bei dem mehrere Fahrzeuge oder ganze Flotten grosse Gebäude mit mehreren Parteien mit Strom versorgen oder Lastspitzen abdecken – sogenanntes «peak shaving».
  • Bei Vehicle to Grid (V2G) schliesslich wird die Batteriekapazität einer grossen Zahl Autos ins Stromnetz eingebunden und hilft, dieses zu stabilisieren, etwa, wenn gerade besonders viel oder zu wenig Strom aus Sonne oder Wind produziert wird.

Sind Autos die besseren Heimspeicher?

Schon länger mit den Möglichkeiten des bidirektionalen Ladens beschäftigt sich das PV-Labor der Berner Fachhochschule BFH, welches auch im Rahmen des Hybrid and Electric Vehicle Technology Collaboration Programme der Internationalen Energieagentur IEA forscht. Am Campus Burgdorf untersucht das Labor mögliche «business cases» aus der Kombination von Elektroauto und Solarstrom. So wurde ein modifizierter Nissan Leaf an einer bidirektionalen Ladestation betrieben. Zudem wurde koordiniertes Laden über Photovoltaikanlagen getestet – sogenanntes «PV preferred charging», bei dem die E-Auto-Batterie nicht einspeist, sondern lediglich den Eigenverbrauch optimiert.

Für Professor Urs Muntwyler, Leiter des PV-Labors, macht bidirektionales Laden gerade private Photovoltaikanlagen attraktiv. «Die Batterien der heutigen Elektroautos haben im Vergleich mit den meisten verkauften Heimspeichern eine sehr grosse Kapazität. Zumal sie im reinen Fahrbetrieb ihre Lebensdauer von bis zu 500’000 Kilometern selten erreichen dürften.» Und mit nur etwa 30 Prozent Effizienzverlust zwischen Auflade- und Entladeenergie sei im Test sehr viel Batteriestrom nutzbar gewesen – ein Wert, so Muntwyler, der in Zukunft auf 10 bis 20 Prozent sinken könne.

Die Batterien der heutigen Elektroautos haben im Vergleich mit den meisten verkauften Heimspeichern eine sehr grosse Kapazität.

Urs Muntwyler, Leiter Labor für Photovoltaiksysteme, BFH

Grosses Potenzial für die Energiewende

Doch auch im grösseren Umfang könnte der Technik eine wichtige Rolle zukommen, so Muntwyler. «Für die Energieperspektiven 2050+ des BFE braucht es etwa 40 Terawattstunden Solarstrom, weitere 40 aus der Wasserkraft. Diese Energie ins Netz zu integrieren, benötigt lokale Batterien.» Wie dies funktionieren kann, hat Muntwylers Team am Beispiel der Stadt Burgdorf untersucht, für die ein Energieversorgungszenario im Jahr 2050 simuliert wurde. Darin wurde zusätzlich zu einem maximalen Solarausbau ein Ersatz aller Fahrzeuge durch Elektroautos angenommen sowie ein Zuwachs an Wärmepumpenheizungen und Klimaanlagen. Auch wenn in diesem Szenario der Stromverbrauch steigt und tägliche Lastspitzen entstehen, gelingt es doch, diese Effekte zu entschärfen – dank bidirektionalen, intelligent betriebenen Ladestationen.

Reicht es für die Winterstromlücke?

Werden Elektroautos am Schluss sogar zur neuen Wasserkraft, die die Schweiz über den dunklen Winter bringt? Prof. Muntwyler relativiert: «Für die Winterstromlücke bringt das wenig, da wir nicht über Monate Strom in Fahrzeugen speichern wollen.» Zudem speichere die Wasserkraft zirka 8,8 Terawattstunden Strom. Selbst wenn alle der aktuell rund 4,7 Millionen Personenwagen in der Schweiz Elektrofahrzeuge wären und je 40 Kilowattstunden Energiereserve für bidirektionales Laden hätten – aktuelle Batterien liefern zwischen 60 und 100 Kilowattstunden –, läge die gesamte Kapazität bei unter 0,2 Terawattstunden. «Im Winter müssen weiter die Wasserkraftwerke arbeiten und die Photovoltaik, die allerdings in der Schweiz aktuell zu langsam ausgebaut wird.»

Die Schweiz am Auto-Netz? Denkbar.

Anders sieht die Bilanz aus, wenn man die Batteriekapazität einer hypothetischen Elektroauto-Schweiz mit dem täglichen Stromverbrauch im Land vergleicht. Dieser lag 2020 bei durchschnittlich 155 Gigawattstunden, also 0,15 Terawattstunden. Wären alle Schweizer Autos batteriebetrieben, könnten sie die Schweiz aktuell länger als einen Tag mit Strom versorgen – es würde dann allerdings niemand mit ihnen fahren. Das Zahlenspiel mag unrealistisch oder nicht erstrebenswert sein, doch es zeigt das Potenzial des bidirektionalen Ladens hierzulande.

Damit die Schweiz zumindest ihr «Utrecht» bekommt, muss noch einiges passieren. «Es braucht Initianten, die eine entsprechende Anzahl Stationen installieren», kommentiert BFH-Forscher Muntwyler, «und Angebote, die die Möglichkeiten des bidirektionalen Ladens nutzen, insbesondere Netzdienstleistungen aller Art, die vergütet werden.»

Immerhin: Die Fahrzeuge sind in Aussicht. Und mit Sun2Wheel ist seit diesem Jahr ein Schweizer Unternehmen auf dem Markt, das bidirektionale Ladestationen im ganzen Land anbietet. Bald dürften die vierrädrigen Speicher also auch bei uns ankommen. Und es wird spannend, zu sehen, wer sie wie nutzt.