Mobil auch ohne Auto?

Immer mehr Menschen teilen sich einen gleichbleibend grossen Lebensraum. Um die Lebensqualität dennoch für alle zu erhalten, muss sich die Art, wie wir diesen Raum nutzen und uns darin bewegen, verändern. Immer mehr Überbauungen werden deshalb entlang eines Mobilitätskonzepts geplant.

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Ein roter Zug mit einem Doppelstockwagen fährt an einem grossen Wohngebäude vorbei in eine kleine Bahnstation ein

Die Schweizer Bevölkerung wächst rasant. Gemäss dem vom Bundesamt für Statistik (BFS) berechneten Referenzszenario wird die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz von 8,6 Millionen Personen Ende 2019 auf 10,4 Millionen im Jahr 2050 ansteigen. Immer mehr Menschen teilen sich also einen unverändert grossen Lebensraum. Das ist eine potenzielle Gefahr für Umwelt und Lebensqualität. Ein Bereich, in dem diese Entwicklung besonders spürbar wird, ist die Mobilität.

Mobilitätskonzepte auf dem Vormarsch

Für erfolgreiche Bauvorhaben sind deshalb Mobilitätskonzepte immer wichtiger. Ihr Ziel ist es, den Bewohner-, Pendler- und Geschäftsverkehr mit einem möglichst geringen Anteil an motorisiertem Individualverkehr zu gestalten. Die Erstellung eines solchen Konzepts ist zwar meist freiwillig. Unter bestimmten Voraussetzungen können Gemeinden jedoch die Erstellung eines Mobilitätskonzepts vorschreiben, etwa, wenn die vorgeschriebene Anzahl an Parkplätzen bei einer Überbauung unterschritten wird. Bei Unternehmen hingegen ist ein solches Konzept oft Bestandteil eines betrieblichen Mobilitäts- oder Umweltmanagements. Auch für bestehende Bauten und Areale kann es erarbeitet und umgesetzt werden.

Ein Leben ohne eigenes Auto?

In sehr gut erschlossenen Stadtgebieten bestehen gute Voraussetzungen, um Überbauungen möglichst autoarm oder sogar autofrei zu gestalten. Das hat auch positive Auswirkungen auf die Baukosten, denn der Aufwand für Autoeinstellhallen und öffentliche Parkplätze sinkt. Stattdessen werden vermehrt der öffentliche Verkehr und Carsharing-Angebote genutzt. Die Areal-Gestaltung kann auf die Bedürfnisse der Menschen fokussieren und der CO₂-Ausstoss sinkt. In der Schweiz gibt es laut der Plattform autofrei/autoarm Wohnen aktuell 21 autofreie oder autoarme Wohnsiedlungen. Bereits 2011 entstand in Bern-Bümpliz die erste autofreie Siedlung der Schweiz, die Siedlung Burgunder. Ihre Bewohner verpflichten sich dazu, kein Auto zu besitzen. Doch dazu später mehr. Auch Zürich ist in Sachen neue Mobilität aktiv. Die grösste Schweizer Stadt will eine Vorreiterrolle übernehmen und hat dazu einen Leitfaden entwickelt. Mit der Dachstrategie «Stadtraum und Mobilität 2040» möchte man die Lebensqualität der Bevölkerung sowie die Umweltverträglichkeit der Mobilität erhöhen. Das heisst, dass umweltschonende und effiziente Verkehrsmittel durch innovative Mobilitätslösungen gefördert werden. Wegweisend ist hier die autofreie Überbauung Kalkbreite in Zürich, die bei ihrer Erstellung 2014 weit über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit erregte.

Wohnüberbauung mit Solaranlagen auf den Dächen, in der Mitte eine Grünfläche mit Spielplatz vor einem traditionellen kleineren Haus
Siedlung Burgunder in Bern-Bümpliz Süd, die erste autofreie Überbauung der Schweiz der npg AG und der WOK Burgunder AG. (Foto: npg AG)

Entscheidend ist die ÖV-Güteklasse

Es entstehen aber auch ausserhalb der grossen Städte immer mehr solcher Siedlungsgebiete, die diesen Spagat zwischen Lebensqualität und Mobilität schaffen wollen. Ein gutes Beispiel ist etwa das Strickler Areal (PDF) in Horgen. Die Baugenossenschaft orientierte sich bei der Erstellung der Mehrgenerationensiedlung an den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft. Dazu wurde auch hier ein Teil der Wohnungen mit der Verpflichtung vermietet, kein Auto zu besitzen. Trotzdem: Autoarme oder gar autofreie Siedlungen sind immer noch ein vorwiegend städtisches Thema. In Agglomerationsräumen oder in ländlichen Gebieten ist oft nur eine leichte Reduktion des motorisierten Individualverkehrs realisierbar. Denn bei der Einordnung von Überbauungen kommt es auf die ÖV-Güteklasse an. Diese gibt Auskunft darüber, wie gut ein Standort mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen ist. Die Einteilung erfolgt von A (sehr gute Erschliessung in urbaner Qualität) bis F (Basiserschliessung). In Horgen liess sich das Konzept gut umsetzen, weil das Areal die ÖV-Güteklasse B hat. Aber auch deshalb, weil ein Teil der Wohnungen an Seniorinnen und Senioren mit Pflegebedarf vermietet wurde. Diese besitzen meist kein Auto.

Mobilitätsberatung für Bauherren und Unternehmen

Für eine sinnvolle, zukunftsorientierte Planung müssen also viele Faktoren berücksichtigt werden. Um Bauherren darin zu unterstützen, hat der Kanton Zürich mit Impuls Mobilität ein Beratungsangebot geschaffen. Gemeinden, Betriebe, Bauherrschaften, Investorinnen und Veranstalter werden vom Beratungsteam bei der Entwicklung und der Umsetzung intelligenter Mobilitätskonzepte und nachhaltiger Mobilitätslösungen unterstützt. «Pro Jahr führen wir im Schnitt etwa 15 Basisberatungen durch, nur während der Coronapandemie waren es etwas weniger», sagt Nora Herbst, Mobilitätsberaterin bei Impuls Mobilität.

Autoarme oder gar autofreie Überbauungen müssen zwingend ein Mobilitätskonzept vorlegen.

Die überwiegende Mehrheit der Klienten sind Bauherren und Betriebe, die in ihrem Unternehmen ein Mobilitätskonzept realisieren möchten. In einem kostenlosen Erstgespräch, der Basisberatung, erfolgen Grundabklärungen in Bezug auf das Vorhaben. «Dabei wird der Rahmen abgesteckt, um zu klären, was geleistet werden muss», erläutert die Mobilitätsberaterin. Wichtig ist die Motivation der Beratungsempfänger. Autoarme oder gar autofreie Überbauungen müssen zwingend ein Mobilitätskonzept vorlegen, das dann auch eingehalten werden muss. Doch auch für herkömmliche Überbauungen gibt es oft gute Gründe für die Erstellung eines Mobilitätskonzepts. Wohnraum mit einer gesteigerten Lebensqualität und nachhaltigen Lösungen wird immer mehr nachgefragt. Und nicht zuletzt verbessert ein Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz das Image des Bauherrn.

Ein Mann und zwei Frauen besprechen ein Architekturmodell
Mobilitätskonzepte eröffnen neue Möglichkeiten des Lebens auf begrenztem Raum: Planung eines 2000-Watt-Areals. (Foto: Bundesamt für Energie BFE)

Von der Erstberatung zum Konzept

«Wir zeigen in der Erstberatung auf, welche Möglichkeiten bestehen, aber auch, wo die Grenzen liegen», sagt Nora Herbst. «Das Resultat dieser Beratung wird dann in einem Protokoll festgehalten und gibt einen Überblick über das mögliche weitere Vorgehen.» Vergleichen lässt sich diese Beratung mit den Energieberatungen, die Energieversorger wie EKZ für ihre Kunden leisten.

In einem nächsten Schritt muss sich der Bauherr entscheiden, wie er weiterfahren möchte. Denn wie gesagt, verpflichtend ist ein Mobilitätskonzept in den meisten Fällen nicht. Bei Impuls Mobilität kann eine Vertiefungsberatung erfolgen, die dann kostenpflichtig ist. Aufbauend auf der Basisberatung und den spezifischen Bedürfnissen erarbeiten die Mobilitätsberaterinnen und -berater individuell zugeschnittene Lösungen.

Ab einem gewissen Umfang verweisen die Mobilitätsberater aus Kapazitätsgründen dann aber an externe Planungsbüros. «Wir übernehmen nur vertiefte Beratungen bis zu einem Budget von maximal 10’000 Franken», erklärt Nora Herbst. Zudem werden die Beratungsnehmer im Bedarfsfall auch an andere Fachbereiche weitergeleitet. «Elektromobilität etwa ist immer ein Thema, aber da beraten wir von Impuls Mobilität nicht mehr und verweisen an Experten wie Energieversorger oder Elektroplaner.»

Auf die Kommunikation kommt es an

Um die im Konzept definierten Ziele zu erreichen, ist eine saubere Umsetzung unabdingbar. Das Konzept muss zum Leben erweckt werden. «Und der Bauherr muss sich seiner Pflichten bewusst werden.» Herausforderungen entstehen oftmals dadurch, dass die Bauherrschaft und die Betreiber nicht dieselben sind. Es ist also wichtig, dass durch diesen Wechsel in den Verantwortlichkeiten keine Lücken in der Umsetzung entstehen. Bei Betrieben hingegen müssen Massnahmen sauber kommuniziert werden und den Mitarbeitenden Lösungen aufgezeigt werden. Wenn etwa Parkplätze im Rahmen des Konzepts kostenpflichtig werden, stösst das meist auf Widerstand. Hier ist auch die Führung gefragt, sie muss eine gewisse Vorbildfunktion übernehmen. Zudem müssen die Vorteile des neuen Konzepts für jeden Einzelnen gut aufgezeigt werden.

Wie lässt sich die Umsetzung kontrollieren?

In autofreien Wohnsiedlungen wie den bereits vorgestellten Siedlungen Burgunder oder Kalkbreite gehört es zum Konzept, dass die Bewohner selbst keine Autos haben. Ziel ist es, dass sie keinen Parkplatzbedarf auslösen. Es stellt sich die Frage, wie die Einhaltung überwacht werden kann. Diese Kontrolle erfolgt in Zusammenarbeit mit den Gemeinden, in Zürich etwa über die Anzahl der blauen Parkkarten. Wenn der Verzicht auf ein eigenes Auto Bestandteil des Mietvertrags ist, kann im Fall einer Zuwiderhandlung zwar eine Verwarnung durch den Verwalter ausgesprochen werden. Doch das Controlling ist schwierig, denn es gibt gewisse Graubereiche. Hier muss dann die Standortgemeinde intervenieren, sie kann die Einhaltung der Massnahmen einfordern. Letzte Eskalationsstufe wäre die Festlegung einer Ersatzabgabe. Erfolgreich umgesetzte Konzepte zeigen aber immer wieder, dass die Vorteile für Eigentümerschaften, Quartiere, Bewohner oder Mitarbeitende bei Weitem überwiegen.

Eine rote S-Bahn fährt ziwschen Wohnblöcken hindurch und über eine Brücke
Gute ÖV-Anbindungen sind Grundvoraussetzung: Das 2000-Watt-Areal Sihlbogen in Zürich hat einen eigenen S-Bahn Anschluss. (Foto: Bundesamt für Energie BFE)