«Das Thema Tageslicht wurde 50 Jahre lang vernachlässigt»

Ein Licht-Experte erklärt, warum natürliches Licht keine Lobby hat, worum es in der neuen Tageslichtnorm geht und warum wir wieder mehr im Freien arbeiten sollten.

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Schulzimmer mit grossen Fenstern, die viel Licht in den Raum lassen

Björn Schrader ist Experte für Tageslicht an der Hochschule Luzern HSLU und Dozent für Gebäudetechnik.

Interview mit Björn Schrader

Glattrasierter Mann mit Seitenscheitel in Hemd und Jacket
Björn Schrader (Foto: HSLU)

Energie-Experten: Den meisten Menschen ist in ihrer Wohnung fast nichts wichtiger als helle Räume. Gleichzeitig wird dem Thema Tageslicht beim Gebäudebau kaum Beachtung geschenkt.

Björn Schrader: Die Helligkeit der Räume ist eines der wichtigsten Kriterien bei der Wohnungswahl. Das Thema Tageslicht wird aber oft nur auf der emotionalen Ebene abgehandelt. In den Visualisierungen von Gebäuden sieht man dann lichtdurchflutete Wohnräume und freundlich helle Kinderzimmer. Es gibt aber keinen Nachweis, wie viel Tageslicht tatsächlich ins Gebäude dringt. Hier setzt die neue Tageslichtnorm an.

Warum wurde das Thema Tageslicht im Gebäudebau so lange vernachlässigt?

Schrader: Tageslicht hat keine Lobby, weil man kaum Geld damit verdient. Fenster verkaufen sich nicht über die Frage, wie viel Licht sie in einen Raum lassen. Die entscheidenden Kaufkriterien für Fenster sind Preis und U-Wert, die Wärmedurchlässigkeit also. Aber es ist schon erstaunlich: Alles ist normiert im Gebäudebau. Das Tageslicht aber wird einfach als gegeben betrachtet.

Worum geht es in der neuen Norm genau?

Wichtig ist: Die Tageslichtnorm macht keine verbindlichen Vorgaben. Sondern sie legt verschiedene Bewertungskriterien fest. Tageslicht kann mit der Norm in Bezug auf Blendung, Sonnenexposition oder Ausblick ins Freie beurteilt werden. Das zentrale Bewertungskriterium aber ist die eigentliche Versorgung des Raumes mit Tageslicht.

Nehmen wir ein Grossraumbüro mit einer Raumtiefe von zwölf Metern: Die Arbeitsplätze sind hier nur bis maximal drei Meter vom Fenster weg ausreichend mit Tageslicht versorgt. Die übrige Fläche ist schlicht ungenügend belichtet. Vielen Verantwortlichen dürfte das aber bisher gar nicht bewusst gewesen sein.

Die neue Tageslichtnorm zwingt einen, sich dazu Gedanken zu machen. Und sie wirft natürlich Fragen auf: Welche Auswirkungen hat eine solche Lichtsituation auf die Verwendung und Möblierung der Büroräume? Wie lässt sich die Fläche trotzdem hochwertig nutzen? Braucht es einen Lichtschacht, einen Innenhof, vielleicht eine andere Fassadengestaltung?

Die Tageslichtnorm wurde 2019 in der Schweiz eingeführt. Zeigt sie bereits Wirkung?

Zu Beginn waren wir sicher, dass sich die neue Norm schnell durchsetzen würde. Wir haben uns jedoch verschätzt. Das Thema Tageslicht wurde fünfzig Jahre lang vernachlässigt. Das lässt sich nicht über Nacht rückgängig machen.

Wie bringt man das Thema Tageslicht also am besten voran?

Entscheidend ist, dass die Tageslichtnorm in die wichtigen Label des Gebäudebaus integriert wird. Nur so werden Planende und Architekten diese auch wirklich anwenden und nachweisen müssen, dass sie dies tun. Erst dann wird man ausserdem merken, wie wenig Wissen diesbezüglich heute vermittelt wird. Wir haben gemerkt: Man muss zuerst bei den Auftraggebenden ansetzen, nicht bei der Ausbildung. Die Anpassung des Lehrplans kommt erst danach.

Fassade mit Fenstern in unterschiedlichen Formaten, die untere Hälfte verschattet von einem Nachbargebäude
Wenn ein Haus von Nachbargebäuden verschattet wird, hat das auch Einfluss auf die Behaglichkeit. Experten der HSLU raten deshalb, Gebäude fassadenweise zu planen. (Foto: HSLU)

Auch die kantonale Gesetzgebung kennt Vorgaben zum Tageslicht. Warum braucht es die neue Norm dennoch?

Gemäss kantonalem Gesetz darf etwa die Fensterfläche eines Gebäudes nicht weniger als zehn Prozent der Bodenfläche betragen. Als Faustregel eigenen sich solche Vorgaben sicher gut. Sie klären aber zum Beispiel nicht, welches Glas zum Einsatz kommt. Es gibt Sonnenschutzgläser, durch die nur noch 20 oder 30 Prozent des Tageslichts dringt.

Sonnenschutzglas wird vor allem in komplett verglasten Bürobauten eingesetzt. Der Prime Tower in Zürich ist ein solches Beispiel. Wenn man möglichst auf Storen verzichten will, dürfen Fenster nur wenig Wärme durchlassen. So wird aber auch der Einfall des Tageslichts stark reduziert.

Zu anderen Zeiten setzte man dagegen auf möglichst kleine Fenster.

Lange galten Fenster als schwächstes Bauteil einer Fassade. Früher stand vor allem der Verlust von Wärmeenergie im Winter im Zentrum. Ab Ende der Sechzigerjahre bedeutete guter Gebäudebau darum, kleinere Fenster einzusetzen. Gleichzeitig begann man, Häuser besser zu dämmen. Dickere Wände führten aber ebenfalls dazu, dass nun weniger natürliches Licht in die Räume drang. Das interessierte aber kaum jemanden. Das lässt sich ja dann mit Kunstlicht lösen, hiess es damals.

Vor hundert Jahren war das natürlich anders. Da richtete sich die Fassadenplanung zuallererst nach der Frage: Wie kann ich drinnen das natürliche Licht möglichst lange nutzen? Künstliches Licht war nicht nur teuer, sondern hinkte dem Tageslicht auch qualitativ weit hinterher.

Frau arbeitet draussen mit Laptop und Notizbuch
Hochwertiges Tageslicht steht uns draussen reichlich zur Verfügung. (Foto: Shutterstock / Jelena Stanojkovic)

Tageslicht ist natürlich, CO2-neutral und kostenlos. Hat das gesellschaftliche Bewusstsein dafür gerade in Energiekrisenzeiten nicht zugenommen?

Das Bewusstsein ist vermehrt da, das stimmt. Aber sicher nicht im Masse wie heute über begrünte Fassaden oder Stadtklima diskutiert wird. Für das Tageslicht gilt in der Regel weiterhin: Es ist ja sowieso da. Man muss das Thema immer wieder anstossen.

Im Sommer ist es manchmal energiepolitisch sinnvoller, die Storen herunterzulassen und das Kunstlicht einzuschalten.

Gleichzeitig ist aber auch künstliches Licht günstiger und energieeffizienter geworden. Gerade im Sommer ist es manchmal energiepolitisch sogar sinnvoller, die Storen herunterzulassen und das Kunstlicht einzuschalten. Das zeigt: Das Thema Tageslicht ist auch eng mit gutem Sonnenschutz verknüpft.

Es ist viel Wissen im Zusammenhang mit Tageslicht vergessen gegangen. Dabei gibt es unkomplizierte Methoden, auf die man sich wieder besinnen könnte.

Gerade am Anfang des Planungsprozesses kommt man mit einfachen Abschätzmethoden schon recht weit. So besagt etwa eine alte Faustformel: Raumhöhe mal zwei ergibt die Fläche, die ausreichend mit Tageslicht versorgt ist. Schön sieht man das an alten Schulhäusern: Die Klassenzimmer sind 3,5 bis 4 Meter hoch und etwa 8 Meter tief. Der ganze Raum hat so genügend Licht. Dagegen sind es in moderneren Unterrichtsräumen vielleicht noch 3 Meter bis zur Decke; dazu kommt weniger durchlässiges Glas. Manchmal reicht das Tageslicht so nur noch 4 statt 8 Meter weit in den Raum.

Solche Faustregeln müssen aber früh im Prozess angewendet werden. Wenn Raumhöhe und Fassadengestaltung erst einmal gesetzt sind, ist es zu spät.

Müssen wir wirklich den ganzen Tag drinnen arbeiten? Es geht hier auch um unsere Gesundheit.

Ich frage mich aber auch: Müssen wir wirklich den ganzen Tag drinnen arbeiten? Der Aussenraum sollte wieder mehr als Arbeitsort mitgedacht werden. Die meisten Menschen in den Industriestaaten halten sich gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO rund 90 Prozent der Zeit in Innenräumen auf. Auch an der Hochschule Luzern haben wir untersucht, wie viel Zeit der Mensch täglich am Tageslicht verbringt: Die meisten Probandinnen und Probanden kamen gerade einmal auf eine Dreiviertelstunde. Selbst ich kam nicht auf höhere Werte. Das hat mich schon bestürzt. Denn man darf nicht vergessen: Es geht hier auch um unsere Gesundheit.