Heizenergie für Gebäude: grosse Lücke zwischen Theorie und Praxis

Zwischen dem erwarteten Energieverbrauch eines Gebäudes und den tatsächlich gemessenen Werten klafft oft eine grosse Lücke. Der Grund liegt vor allem im Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner.

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Haus mit geschlossenen Rolläden, im Hintergrund ein Berg mit etwas Schnee

Was Gebäude theoretisch und tatsächlich an Energie verbrauchen, ist längst nicht immer deckungsgleich. Performance Gap nennt sich das in der Fachsprache: die Lücke also zwischen dem Energieverbrauch, den Fachleute in der Planung berechnen, und jenem, der in der Praxis wirklich gemessen wird.

Abweichungen können zum Teil durch Fehler oder Fehleinstellungen bei der Gebäudetechnik erklärt werden. Einen wesentlich grösseren Einfluss dürfte jedoch das Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohnern haben. Gross ist der sogenannte Performance Gap vor allem beim Lüften und Verschatten in den Übergangs­jahreszeiten. Gerade im Frühling und im Herbst wird also mehr Heizenergie verbraucht als erwartet.

Lüftung, Verschattung und Wärmebedarf in Mehrfamilienhäusern

Gross scheint dieser Performance Gap besonders in den Übergangsjahreszeiten zu sein, wie es im Schlussbericht des Projekts VenTSol heisst. Zwar stelle man auch im Winter eine Differenz zwischen theoretischer Berechnung und realem Betrieb fest, schreiben die Autoren und Autorinnen dort. Im Herbst und im Frühling falle diese aber wesentlich höher aus.

Bei Aussentemperaturen zwischen 4 und 12 Grad Celsius sind die Unterschiede zwischen Theorie (gestrichelt) und Praxis am grössten. (Grafik: Studie ImmoGap)

Öffnen Bewohnerinnen und Bewohner also gerade in der Übergangszeit häufiger die Fenster als von Fachleuten erwartet? Lassen sie öfter die Storen herunter als gedacht? Forschende der Ostschweizer Fachhochschule OST, des Instituts für Solartechnik SPF und der econcept AG haben diese Frage im Auftrag des Bundesamtes für Energie BFE untersucht.

Im Projekt VenTSol wurden energierelevante Verhaltensweisen in mehreren Mehrfamilienhäusern in Zürich, Horgen und Bern analysiert. Die Verschattung der Fenster erfasste das Forschungsteam mit Fassadenfotografien. Anhand von Sensoren ermittelte man Temperatur, Luftfeuchtigkeit und CO2-Konzentration in den Wohnungen. Ausserdem hielt man so fest, wie oft die Fenster geöffnet wurden. Parallel zu diesen Messungen wurde eine Befragung der Bewohnerinnen und Bewohner durchgeführt. Ziel des Projekts war es, ein realistisches Nutzerverhalten zu erarbeiten. Dieses sollte dann für Gebäudesimulationen und andere Berechnungsmethoden genutzt werden können.

Häufiges Lüften und Verschatten führt zu mehr Wärmebedarf in den Räumen

Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen, was das Forschungsteam vermutet hatte: Gerade in den Übergangszeiten wird in den untersuchten Wohnungen häufiger gelüftet und verschattet als in der Theorie vorgesehen. Entsprechend wird auch mehr Heizenergie benötigt. Im Winter fallen ausserdem die Raumtemperaturen oft höher aus als prognostiziert. Studienleiter Igor Bosshard hat mehrere Tipps, was sich dagegen tun lässt.

Tipp 1: Regelmässige Stosslüftung statt ganztags offene Kippfenster

Besonders im Herbst und im Frühling werden Fenster öfter geöffnet und länger offen gelassen als in den planerischen Berechnungen angenommen. Je mehr die Temperaturen draussen steigen, desto häufiger stehen die Fenster offen. Selbst im Winter lassen nicht wenige Befragte die Fenster über längere Zeit offen. Dieses Verhalten wird vor allem mit dem Bedürfnis nach frischer Luft erklärt.

Offene Kippfenster sollten tagsüber vermieden werden.

Studienleiter Igor Bosshard rät stattdessen zu einer regelmässigen Stosslüftung. Dabei werden alle Fenster für 5 bis 10 Minuten vollständig geöffnet. «Offene Kippfenster dagegen sollten tagsüber vermieden werden», sagt der Forscher. Nachts, wenn eine Stosslüftung nicht möglich und die Schlafzimmertür geschlossen sei, könnten Kippfenster leicht geöffnet werden. Die maximale Öffnungsweite sollte aber auch hier nicht ausgeschöpft werden.

Tipp 2: Innenliegender Sonnenschutz für mehr solare Wärmegewinne

In der Untersuchung fallen auch die solaren Gewinne geringer aus als theoretisch erwartet. Der Grund dafür: Die Storen werden häufiger heruntergelassen oder bleiben zu. Auch hier zeigte sich: Je wärmer es draussen wird, desto öfter werden die Storen gesenkt.

Was das Forschungsteam besonders überrascht hat: An der Hälfte der untersuchten Fenster sind die Sonnenstoren selbst an den kältesten Tagen im Jahr geschlossen. «Damit wird ein Grossteil des solaren Potenzials für die passive Heizung nicht genutzt», heisst es im Bericht. Sogar im Winter wird auf diese Weise oft verhindert, dass zusätzliche Sonnenwärme in die Wohnungen gelangt. Die Befragten nennen als Gründe für ihr Verhalten eine Reduktion des Lichteinfalls beziehungsweise der Schutz vor Blendung und Einsicht von aussen.

Für kühle Zeiten empfiehlt Bosshard darum einen innenliegenden Sonnenschutz. «Vorhänge etwa absorbieren die Sonnenenergie und geben sie an den Raum ab.» Ein aussenliegender Sonnenschutz wie Jalousien dagegen sollte nur im Sommer zur Anwendung kommen. Er trage dazu bei, das Gebäude, beziehungsweise die Wohnung, möglichst kühl zu halten.

Vorhänge absorbieren die Sonnenenergie und geben sie an den Raum ab.

Wohnzimmer mit grossen Fenstern
Wohnräume mit grossen Fenstern werden im Winter möglicherweise als kälter und zu wenig behaglich empfunden. (Foto: Gustavo Galeano Maz/Pexels)

Tipp 3: Vorhänge für mehr Gemütlichkeit in Wohnräumen mit grossen Fenstern

Höher als in den theoretischen Berechnungen angenommen ist oft ausserdem die Temperatur in den Wohnräumen eingestellt. Sie beträgt in vielen Wohnzimmern im Winter um 23 Grad herum. Höhere Raumtemperaturen gehen mit einer substanzielle Zunahme des Heizbedarfs einher. Sie liegt pro zusätzlichem Grad bei 6 bis 10 Prozent.

Die genauen Gründe für den erhöhten Wärmebedarf konnten die Forschenden nicht ermitteln. Klar ist: Zwischen selbst gemessenen und gefühlten Raumtemperaturen besteht oft kein oder nur ein sehr geringer Zusammenhang. Es zeigte sich sogar: Obwohl die Temperatur in den untersuchten Wohnungen in Horgen durchschnittlich höher war als in jenen in Zürich, fanden es die Horgener tendenziell zu kalt bei sich zu Hause. Den Zürchern dagegen war es eher zu warm.

Ein innenliegender Sonnenschutz wie Vorhänge kann einen Beitrag zu mehr Behaglichkeit leisten.

Igor Bosshard, Studienleiter Institut für Solartechnik SPF

Möglicherweise spielt die Bauweise der analysierten Siedlungen eine Rolle: Grössere Fensterflächen wie in den Bauten in Horgen könnten dazu führen, dass die Wohnräume im Winter als kälter und weniger behaglich empfunden werden. Diese Komforteinbusse kompensieren die Bewohnenden laut dem Autorenteam möglicherweise, indem sie die Raumtemperatur erhöhen. «Das würde auch erklären, warum Menschen in modernen Gebäuden tendenziell höhere Sollraumtemperaturen einstellen», heisst es im Bericht.

«Ein innenliegender Sonnenschutz wie Vorhänge kann einen Beitrag zu mehr Behaglichkeit leisten», sagt Bosshard. Auf die Architektur bezogen plädiert der Studienleiter für eine Korrektur des Trends zu grossen Fensterfronten.