Die Flugwindkraft erschliesst bisher unzugängliche Ressourcen
Eine neue Option hat sich jedoch in den letzten Jahren aufgetan: Das Wachstum in die Höhe. Mit Hilfe von am Boden befestigten Flugkörpern wie Lenkdrachen oder Drohnen versuchen zurzeit rund 50 Firmen weltweit, eine völlig neue Generation von Windkraftanlagen (in der Fachliteratur als Airborne Wind Energy Systems bezeichnet) zu entwickeln, die den Wind in höheren Schichten der Atmosphäre einfangen und in Strom umwandeln soll.
Dafür gibt es gute Gründe: In höheren Lagen, also konkret zwischen rund 200 und 1000 Metern Höhe, weht der Wind mit höheren Geschwindigkeiten als in Bodennähe. Eine im September 2018 veröffentlichte Analyse eines hochauflösenden Datensatzes der Windgeschwindigkeiten über Europa kommt zu dem Schluss, dass die Stromausbeute, die mindestens in 95 % der Zeit über dem grössten Teil von Europa zur Verfügung steht, für Flugwindkraftanlagen in einer variablen Betriebshöhe bis zu 500 Meter doppelt so hoch wäre wie für konventionelle Windkraftanlagen gleicher Nennleistung in einer fixen Arbeitshöhe von 100 Metern. Diese Verdoppelung der Ausbeute geht laut dem Autorenteam um Philip Bechtle von der Universität Bonn und Roland Schmehl von der TU Delft auf zwei Faktoren zurück: Die im Durchschnitt höheren Windgeschwindigkeiten im genannten Höhenbereich und die Fähigkeit der fliegenden Kraftwerke, ihre Flughöhe jederzeit der schwankenden Windstärke anzupassen. «Den Wind dort einzufangen, wo er am stärksten weht, ist von kapitaler Bedeutung, denn die Leistung einer Windkraftanlage steigt kubisch mit der Windgeschwindigkeit an», sagt Sarah Barber, Leiterin Windenergie an der Hochschule für Technik Rapperswil. «Das heisst: Bei einer Verdoppelung der Geschwindigkeit ergibt sich eine Verachtfachung der Leistung», erläutert Barber.
90 % weniger Materialaufwand
Die Flugwindkraft hat einen weiteren wichtigen potenziellen Vorteil: Der Materialaufwand würde wesentlich kleiner ausfallen als bei konventionellen Pendants. Auf einen 100 Meter hohen, tonnenschweren Turm sowie auf ebenfalls riesige Rotorblätter kann hier verzichtet werden. Das ist wichtig, denn heutige Windkraftanlagen am Boden oder im Meer bestehen zum grossen Teil aus einer Tragestruktur aus Beton, Stahl und anderen Materialien, die nötig ist, damit die Anlagen in rund 100 Metern Höhe den Wind «ernten» können, ohne dabei unter den grossen mechanischen Belastungen zu versagen. «In Wirklichkeit wird aber die meiste Windenergie im letzten Drittel des Rotorblattes eingefangen», sagt Barber.
Die Entwickler der fliegenden Windkraftanlagen werben mit dem Argument, dass dank der neuartigen Technik das Gewicht der Stromerzeugungsanlage um ganze 90 % reduziert wird. Davon erhoffen sie sich drastisch tiefere Materialkosten für ihre Anlagen im Vergleich zu den konventionellen Windturbinen.
Generator am Boden oder an Bord
Es gibt im Prinzip zwei Ansätze, um die Höhenwinde in Strom umzuwandeln. Die eine Variante besteht aus einem gefesselten Drachen oder sonstigem Flugkörper und einem am Boden platzierten Generator. Das angeleinte Flugobjekt muss zuerst auf seine Betriebshöhe steigen. Einmal oben angekommen, wird der Flugkörper vom Wind angetrieben und zieht am gespannten Seil. Dadurch wird der Generator an der Bodenstation in Rotation versetzt, wodurch Strom erzeugt wird. Während der Rückholphase wird der Flugkörper unter einem kleinen Energieaufwand zum Boden zurückgebracht.
Beim anderen Ansatz trägt das ebenfalls am Boden verankerte Flugobjekt einen Generator mit an Bord, der durch eine Windturbine zum Rotieren gebracht wird. Die Seile dienen hier zur Steuerung und als Kabel zur Übertragung des generierten Stroms zur Bodenstation.
Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile. Fliegt der Generator mit, so werden dadurch die Verluste durch mechanische Übertragung der Energie über das Seil auf den Generator beseitigt. Gleichzeitig jedoch steigt das Fluggewicht, was ebenfalls Energie kostet.
Der starre Flügel scheint sich durchzusetzen
Welcher der beiden Ansätze sich letztendlich durchsetzen wird, oder ob beide nebeneinander weiter bestehen könnten, ist noch offen. Bei der Bauweise zeichnet sich jedoch bereits ein Gewinner ab: «Es ist ein klarer Trend zu beobachten: Weg von textilen Drachen, hin zu starren Flugkörpern», sagt Sarah Barber.
Neben den Hardware-Aspekten bereitet den Pionieren der Flugwindkraft vor allem die Software zur Steuerung der Drachen noch Kopfzerbrechen. «Es ist nämlich eine sehr komplexe Aufgabe, im chaotisch wechselnden Höhenwind stets so zu fliegen, dass die grösstmögliche Leistung abgeschöpft werden kann», sagt Barber. Die Steuerung muss in der Lage sein, den Anstellwinkel des Drachen bzw. des starren Flügels so zu wählen, dass möglichst viel Energie erzeugt wird. Für herkömmliche Windräder, die in einer fixierten Höhe von bis zu rund 100 Metern betrieben werden, gebe es inzwischen genügend Erfahrung und Messwerte, um den Ertrag einer Anlage ziemlich präzise vorauszuberechnen. Für die höheren Luftschichten, die bei der Flugwindkraft relevant sind, müssen diese Erfahrungswerte noch gewonnen werden.
Eine weitere Frage, die vor der Kommerzialisierung der Flugwindkraft geklärt werden muss, ist die der Flugsicherheit. Die fliegenden Kraftwerke müssten entweder in einem Höhenbereich fliegen, der für die Flugfahrt gesperrt ist oder ihr Betrieb muss mit dem von Flugzeugen kompatibel werden.
Ansätze verschiedener Firmen in der Entwicklung von Flugwindkraftanlagen
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