Was sagen Herkunftsnachweise über den Strom aus?

Woher kommt mein Strom? Diese Frage sollen die Herkunftsnachweise beantworten. Das Zertifizierungssystem ist bald 18 Jahre alt und wird – analog zu den fast Volljährigen – immer wieder kritisiert. Doch Veränderungen stehen an.

7 Min.
Stausee

Jedes Jahr erfahren die Schweizerinnen und Schweizer, wie viel Strom aus erneuerbaren Quellen durch die Steckdosen im Land geflossen ist. 2022 waren es 79 Prozent, wovon 65 Prozent auf Grosswasserkraft zurückgehen und knapp 14 Prozent auf die sogenannten neuen erneuerbaren Energien wie Sonne, Wind, Biomasse und Kleinwasserkraft. Ein knappes Drittel dieses erneuerbaren Stroms stammte aus dem Ausland. Dass man das so aufschlüsseln kann, verdanken wir den sogenannten Herkunftsnachweisen. Ein technischer Begriff, über den immer wieder auch emotional diskutiert wird.

Herkunft der Nachweise – und der Kritik an ihnen

Was genau sind Herkunftsnachweise? Hier gibt es einen guten Überblick zum Thema. Dennoch kurz zusammengefasst: Die Herkunftsnachweise (HKN) begegnen dem Dilemma, dass Strom zwar auf unterschiedliche Art hergestellt wird, sich aber im Netz nicht mehr unterscheiden lässt. Deshalb wird für jede Kilowattstunde produzierten Strom ein Nachweis erstellt, wie, wo und in welchem Zeitraum sie produziert wurde. Diese Nachweise werden separat vom Strom gehandelt, Energieversorgungsunternehmen erwerben sie und «entwerten» sie vor der Kennzeichnung des eigenen gelieferten Stroms. Das verhindert, dass die HKN doppelt gezählt werden. So erhalten die Kundinnen und Kunden Transparenz darüber, welche Art von Strom sie beziehen.

Eine europäische Geschichte

Die HKN werden in der Schweiz seit 2006 eingesetzt. Eingeführt wurden sie 2005 im Zuge der Revision der Energieverordnung EnV und auch, um Kompatibilität mit dem europäischen Strommarkt herzustellen, auf dem bereits seit 2004 Herkunftsnachweise Pflicht waren. Die Schweizer HKN werden nach dem «European Energy Certificate System»-Standard, kurz EECS, ausgestellt und sind mit den HKN der anderen Teilnehmerländer vergleichbar. Seit der Einführung der HKN in der Schweiz gab es mehrere Anpassungen: Seit 2013 sind sie für alle Stromproduktionsanlagen mit einer Anschlussleistung über 30 kVA verpflichtend. Seit 2018 muss zudem als Teil der Energiestrategie 2050 die Stromkennzeichnung auf HKN basieren – jede gelieferte Kilowattstunde muss mit einem HKN belegt werden können, sogenannter «Graustrom» unklarer Herkunft ist nicht mehr zulässig. Mit dieser sogenannten Volldeklaration sind die Anforderungen in der Schweiz strenger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Da Strom in der EU aus konventionellen Kraftwerken nicht immer zertifiziert wird, Schweizer Energieversorgungsunternehmen solchen aber einkaufen, können sie Ersatznachweise erfassen lassen. Eine Auswirkung auf die HKN in der Schweiz hatte auch das Clean Energy Package der EU von 2021.

Dach eines Industriegebäudes mit riesiger PV-Anlage (im Aufbau)
Schweizer Endkunden haben ein Recht darauf zu erfahren, wo der Strom für sie produziert worden ist. (Foto: Terelyuk/Shutterstock)

Die Grenzen der Herkunftsnachweise

Die Geschichte und die Funktionsweise der HKN geben einen Hinweis darauf, welchen Zweck sie erfüllen sollen: Transparenz schaffen über Zusammensetzung und Herkunft des konsumierten Stroms. Einige Energieversorgungsunternehmen sind zudem durch Vorgaben verpflichtet, einen Teil oder allen Strom aus erneuerbaren Quellen anzubieten. Das Zürcher Energiegesetz schreibt dies beispielsweise seit 2016 vor (§ 14 a EnerG). Auch Unternehmen, die ihren Strom auf dem Markt beschaffen, sind teils durch ihre Corporate Social Responsibility-Strategie (CSR) dazu angehalten. In solchen Fällen dienen HKN als Beleg.

Die von Pronovo ausgestellten schweizerischen Nachweise zeigen auf, aus welchem Kraftwerk und aus welcher Energiequelle der Strom stammt. (Grafik: Kooi/EnEx)

Kritik an den Herkunftsnachweisen zielt oft darauf ab, dass diese vom physikalischen Transport des Stroms und vom Stromhandel entkoppelt sind.

Energieversorgungsunternehmen erwerben die HKN über das ganze Jahr verteilt, weisen sie gegenüber ihren Kundinnen und Kunden in der Regel über das Jahr bilanziert aus. Das ist vor allem in Bezug auf die Winter- und Sommerstromproblematik relevant. So ist es möglich, dass im Sommer bei Überschuss Solar-HKN gekauft und auf die Stromrechnung im Winter angerechnet werden – dann, wenn die Schweiz auf Import-Strom mit schlechterer CO2-Bilanz angewiesen ist.

Der Nachweis in Zukunft

Für die HKN stehen Veränderungen an, welche zum Teil auf die obige Kritik reagieren. Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK passt die sogenannte «Verordnung des UVEK über den Herkunftsnachweis und die Stromkennzeichnung (HKSV)» per 2027 an. Ab dann soll nur noch eine quartalsscharfe Stromkennzeichnung möglich sein. So wird für Strom, der im Winter geliefert wird, auch ein HKN nötig, der im Winter erzeugt wurde. Auch wenn durch diese Massnahme die Transparenz erhöht und der Sommer-Winter-Problematik begegnet wird, ist unklar, ob so auch ein Anreiz geschaffen wird, die Stromproduktion durch erneuerbare Energien auszubauen.

Auswirkungen für Stromkunden und Solarstromproduzenten

Hans-Heiri Frei, Netzwirtschafter bei EKZ, weist darauf hin, dass die höhere Transparenz auch einen Preis haben wird: «Die neuen Regeln werden zu höheren HKN-Preisen führen, für die letztlich die Endverbraucher aufkommen müssen.» In den Sommerquartalen werde die quartalsweise Kennzeichnung zudem zu einer Entwertung der Photovoltaik-HKN führen, was die Investition in PV-Anlagen weniger attraktiv macht.

Im Winterhalbjahr dagegen werde der Mangel an erneuerbarer Energie die HKN-Preise in die Höhe treiben, erwartet Frei. «Die Vorgabe, alle Kunden mit 100 Prozent erneuerbarem Strom zu beliefern, wird dann erst recht nur mit ausländischen Herkunftsnachweisen zu erfüllen sein.»

Echtzeitdaten als Alternative

Eine Alternative zu Zertifikaten ist die Echtzeitüberwachung von Stromproduktion und ‑verbrauch. Das Schweizer Start-up aliunid will genau dies als Produkt für Energieversorgungsunternehmen und ihre Kundinnen und Kunden etablieren. Dafür nutzt es Echtzeitdaten aus dem Stromnetz und ein eigens entwickeltes Gerät, das bestehende Stromzähler auslesen kann. David Thiel, CEO des Unternehmens, kennt HKN und auch die Pläne des Bundes, diese zu erneuern: «Es ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber auch nicht mehr. Die Zertifikate sind immer noch produktionsorientiert und nicht verbrauchsorientiert. Also ein virtuelles Konstrukt, das die Physik im Stromnetz nicht abbildet.»

Für Thiel braucht es einen Wandel von der produktionsorientierten hin zu einer verbrauchsorientierten Zertifizierung. «Die Konsumentinnen und Konsumenten sollen wissen können, woher der Strom kommt, den sie gerade verbrauchen, und nicht, was die Schweizer Kraftwerke in einem Jahr produziert haben.» Das erfordere aber ein grundlegendes Umdenken der Energiebranche. «Die fehlenden Echtzeitdaten, die Möglichkeit für den günstigen Zertifikatekauf im Ausland und falsche Produktionsanreize für Sommer- statt Winterstrom schaden meines Erachtens mehr, als sie nützen. Denn sie suggerieren den gutwilligen Konsumentinnen und Konsumenten, dass Zertifikate die Umwelt- und Energieprobleme im grossen Stil lösen können.»

Forschung in Europa und der Schweiz zum Verhalten

Einige Schweizer Energieversorgungs- und andere Unternehmen nutzen die Lösung von aliunid bereits. Die Erfahrung sei grundsätzlich gut, so Thiel. «Die Sensibilisierung hilft zunächst einmal, Strom zu sparen.» Ob die Endkundinnen und -kunden aufgrund der Daten ihren Stromverbrauch auch der Verfügbarkeit von Ökostrom anpassen, untersucht aliunid derzeit im Rahmen des EU-weiten Projekts «domOS». Ergebnisse erwartet aliunid ab Sommer 2024.

Eine Prämisse sowohl der HKN als auch der Echtzeitdaten von aliunid ist der Wunsch nach einer zuverlässigen Stromversorgung aus erneuerbaren Quellen. «Ich glaube daran, dass immer mehr Menschen das wollen», so Thiel. Allerdings denke er nicht, dass sich die Bereitschaft verändere, den Komfort einzuschränken oder mehr für Strom zu bezahlen. «Ich erwarte weniger «on demand»-Verbrauchsentscheide, sondern eher die aktive Wahl glaubwürdiger, lokaler Stromprodukte mit tieferem CO2-Fussabdruck und einem Fokus auf die Qualität des verbrauchten Stroms». Hierzu führt aliunid gemeinsam mit dem Verein für umweltgerechte Energie VUE und einigen Energieversorgungsunternehmen seit 2022 einen Feldtest durch. Analog zum Stromgütesiegel «naturemade star» testen die Partner bis 2024 die Zertifizierung eines ökologischen Echtzeit-Stromprodukts.

Gut möglich also, dass 2027, wenn die quartalsscharfe Stromkennzeichnung Pflicht wird, auch noch andere Lösungen bereitstehen. Auch neue Stromprodukte werden jedoch für die Stromkennzeichnung auf HKN zurückgreifen müssen. Knappheit und Überfluss von erneuerbarer Energie werden weiterhin zeitweise vorkommen, so dass bei grosser Nachfrage die Anbieter lokaler Stromprodukte nicht garantieren können, dass die Verbraucher jederzeit nur erneuerbaren Strom erhalten.