Mehr Biogas für die Schweiz – oder doch lieber nicht?
Biogas führt ein Schattendasein. Kann die Schweiz vom Energieträger, der als klimafreundliche Alternative zum Erdgas gilt, noch mehr produzieren? Ja, sagen die einen. Aber, die anderen.
Biogas führt ein Schattendasein. Kann die Schweiz vom Energieträger, der als klimafreundliche Alternative zum Erdgas gilt, noch mehr produzieren? Ja, sagen die einen. Aber, die anderen.
Verfasst von Paul Drzimalla
Die Schweiz braucht heute noch viel Erdgas. Da Erdgas zu den fossilen Energieträgern gehört, stellt sich die Frage: Womit lässt sich dieses ersetzen? In der Diskussion taucht dabei der kleine Bruder des Erdgases auf: Biogas. Klein deshalb, weil Biogas heute nur einen verhältnismässig geringen Anteil am Gesamtverbrauch hat.
2021 wurden 365 Gigawattstunden einheimisches Biogas in der Schweiz abgesetzt. Hinzu kommen weitere 1830 Gigawattstunden Biogas aus dem Ausland. Diesen Zahlen steht ein Gesamt-Gasabsatz vom 38’350 Gigawattstunden gegenüber. Biogas macht also nur einen kleinen Teil – knapp 6 Prozent – am Schweizer Gasabsatz aus, Schweizer Biogas erst recht, hier sind es weniger als 1 Prozent.
Lässt sich die Menge des in der Schweiz produzierten Biogases erhöhen? Immer wieder wird dies gefordert, denn im Gegensatz zum fossilen Erdgas gilt Biogas als klimaneutral, da für seine Produktion nur Biomasse verwendet wird. In der Vergangenheit sind verschiedene Studien dieser Frage nachgegangen, zuletzt im Auftrag der Energiefachstellenkonferenz EnFK (PDF). Diese Studie gibt das maximale theoretische Produktionspotenzial von erneuerbarem Gas in der Schweiz an: 6,6 Terawattstunden. Nach Verlusten durch den Methanisierungsprozess und den Eigenverbrauch bleiben 3,7 Terawattstunden übrig, die ins Gasnetz eingespeist werden könnten. Das entspräche einer Verzehnfachung im Vergleich zu 2021.
Hat die Schweizer Energieversorgung also mit dem Biogas ein klimafreundliches Ass im Ärmel? Schaut man die Zahlen der EnFK-Studie genauer an, speist sich das theoretische Produktionspotenzial aus zwei Quellen: der Landwirtschaft mit 4,4 Terawattstunden, die zu etwa 80 Prozent aus tierischen Ausscheidungen stammen. Und aus biogenen Abfällen mit 2,2 Terawattstunden, die wiederum zu über 80 Prozent aus organischen Industrie- und Siedlungsabfällen stammen. Beide Quellen stehen im Zusammenhang mit zwei Phänomenen, die ihrerseits als klimaschädlich gelten: Fleischkonsum und Food-Waste. Erkauft sich die Schweiz ihre klimafreundliche Energie also mit Emissionen «upstream», am anderen Ende der Wertschöpfungskette?
Zum Food-Waste und Biogas geht eine Nachfrage an Dr. Claudio Beretta. Er forscht an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zu Nachhaltigkeit und Food-Waste-Vermeidung und ist Initiant der Plattform foodwaste.ch. Sein Urteil: «Grundsätzlich ist jedes essbare Lebensmittel, das in der Biogasanlage landet, eine grosse Belastung für die Umwelt, denn was man aus der Biogasanlage an Energie zurückgewinnt, ist ein Bruchteil der Energie, die man investiert hat.» Gleiches gelte für die CO2-Bilanz. Er verweist auf seine eigene Forschung, welche die Effekte untersucht hat, die der Umgang mit Lebensmittelresten auf die Umwelt hat.
Jedes essbare Lebensmittel, das in der Biogasanlage landet, ist eine grosse Belastung für die Umwelt.
Claudio Beretta, Umweltwissenschafter am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation der ZHAW
Er ergänzt: «Biogas macht dann Sinn, wenn man Biomasse sowieso hat. Also in Form von unessbaren Rüstabfällen von Lebensmitteln oder von zusätzlichem Zuwachs an Holz in einem Wald.» Dass Food-Waste ein Problem ist, hat indes auch der Bund erkannt. Im April 2022 hat der Bundesrat beschlossen, die Menge an Food-Waste bis 2030 verglichen mit 2017 zu halbieren. Die Halbierung betrifft alle Bereiche, in denen Food-Waste anfällt, also Industrie und Haushalte, die für das theoretische Biogaspotenzial wichtig wären. Die EnFK-Studie geht, gestützt auf Zahlen des Bundesamts für Umwelt von 2018, von 1,7 Millionen Tonnen biogenen Siedlungsabfällen pro Jahr aus. Das Aktionsprogramm des Bundes beziffert vier Jahre später die Menge an vermeidbarem Food-Waste auf 778’000 Tonnen pro Jahr, gestützt auf Zahlen von Dr. Beretta und seinem Team. Ein Teil des Biogaspotenzials scheint also infrage gestellt. Zur Erinnerung: Biogene Abfälle machen in der EnFK-Studie ein Drittel des Potenzials aus.
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Jetzt Newsletter abonnierenWie sieht es mit den tierischen Ausscheidungen aus, respektive ihrer Entstehung: der Produktion von tierischen Nahrungsmitteln? Hierzu antwortet Manuel Klarmann. Er ist Mitgründer des Schweizer Instituts Eaternity, das Gastrounternehmen und Detailhändlern hilft, den ökologischen Fussabdruck ihrer Lebensmittel zu bestimmen. Zum Fleischkonsum sagt er: «Verglichen mit unserer derzeitigen Ernährung, die zirka 2,1 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr verursacht, ist das Potenzial einer Ernährung ohne tierische Produkte mit nur 0,5 Tonnen CO2 pro Person im Jahr bereits beträchtlich.» Er weist aber noch auf einen weiteren Punkt hin: «Auf den Landflächen, auf denen heute Tiere weiden oder Futterpflanzen angebaut werden, könnte man anderes tun, zum Beispiel Waldanbau. Das ergäbe eine CO2-Senke.»
Doch wie realistisch ist der Rückgang des Fleischkonsums? Manuel Klarmann dazu: «Szenarien für die Ernährung wurden viele berechnet. Allen liegen Annahmen zu Grunde, die man hinterfragen kann. Warum geht in einigen Studien unser Konsum von Poulet auf fast null zurück, aber bleibt die Rindtierhaltung überproportional erhalten?» Er verweist auf den Report der EAT-Lancet Kommission, einer internationalen Non-Profit-Organisation, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt wird. «EAT-Lancet modelliert vor allem einen Konsum von rotem Fleisch, der auf die Menge zurückgeht, wie wir sie vor 75 Jahren gegessen haben. Daraus resultieren immerhin rund 50 Prozent tiefere Emissionen pro Kopf. Das scheint mir realistisch – für unsere Grosseltern hat es damit ja auch geklappt.»
Ein Konsum von rotem Fleisch wie vor 75 Jahren führt zu rund 50 Prozent tieferen Emissionen pro Kopf.
Manuel Klarmann, CEO Eaternity
Eine Nachfrage bei Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung: Wie sieht der Bund unseren Fleischkonsum in Zukunft? Und hat geringerer Fleischkonsum überhaupt einen Effekt auf jene tierischen Ausscheidungen, aus denen vermehrt Biomasse gewonnen werden könnte? Stefan Mann, Leiter der Forschungsgruppe Sozioökonomie, sagt dazu: «Aktuell ist der Konsum von Schweine- und Kalbfleisch rückläufig, derjenige von Pouletfleisch steigend und derjenige von Rindfleisch stabil.» Mit dem Klima- und Tierwohlbewusstsein sowie wegen technologischer Entwicklungen wie «plant based» oder Laborfleisch, so Mann, könne es künftig zu einem beschleunigten Rückgang des traditionellen Fleischkonsums kommen. Und er ergänzt: «Beim Rind- und Schweinefleisch ist es tatsächlich so, dass durch einen reduzierten Konsum die Inlandproduktion zurückgehen würde. Denn dort hat die Schweiz einen hohen Selbstversorgungsgrad.»
Geringerer Fleischkonsum könnte also zu geringerer Fleischproduktion führen. Doch was bedeutet der Rückgang an Ausscheidungen, die heute auch als sogenannter «Hofdünger» verwendet werden? Stefan Mann dazu: «Tatsächlich hat sich durch den jüngsten Anstieg der Energiepreise, und damit verbunden der Düngerpreise, das Marktgleichgewicht organischer Dünger etwas verschoben.» Sprich: Hofdünger, der energie- und emissionsintensiven Kunstdünger ersetzen könnte, wird gefragter. Stefan Mann fügt aber an: «Dennoch ist Hofdünger in der Schweiz und anderen europäischen Ländern kein wirklich knappes Gut. Auch eine verbesserte Gewinnung und Nutzung von Klärschlämmen und Komposten würde Entlastung auf dem Düngermarkt bringen. Daran wird deutlich intensiver gearbeitet, sobald Hofdünger wirklich knapp wird.»
Gerade das Beispiel Hofdünger zeigt, dass ein Fazit Pro oder Contra mehr Biogas nicht leicht fällt. Denn es berühren sich zwei Systeme: Energie und Landwirtschaft. Dadurch steigt unweigerlich die Komplexität, und jede Veränderung beeinflusst mehrere Variablen. Andererseits lässt sich festhalten, dass über die Landwirtschaft und das Beispiel Food-Waste noch ein drittes System ins Spiel kommt: die Ernährung. Und damit gelangt die Zukunft des Biogases auch ein Stück weit in die Hände jeder und jedes Einzelnen.
Ökostrom Schweiz ist der Fachverband der landwirtschaftlichen Biogasproduzenten. Der kurze Film porträtiert eines von über 150 Mitgliedern – einen Landwirt, der gemäss Verbandsporträt gleichzeitig Klima- und Energiewirt ist.
Titelfoto
Shutterstock / Jürgen Fälchle
Verband der Schweizerischen Gasindustrie VSG
Dissertation Claudio Beretta
Environmental Assessment of Food Losses and Reduction Potential in Food Value Chains
Studie im Auftrag der EnFK
Einspeisepotenzial von erneuerbarem Gas in das Schweizer Gasnetz bis 2030 (Zusammenfassung)
Studie im Auftrag der EnFK
Einspeisepotenzial von erneuerbarem Gas in das Schweizer Gasnetz bis 2030 (Studie)
Paul Drzimalla ist Texter/Konzepter und Redaktor bei Kooi AG. Er schreibt unter anderem über Energie- und Nachhaltigkeitsthemen.
Kommentare: Was denken Sie?
K. Roth
Vor 2 Jahren
Guten Tag, gibt es Untersuchungen dazu, ob es sinnvoll und machbar wäre, in der Schweiz mit Kläranlagen Biogas zu produzieren und ins Netz einzuspeisen? Technische Lösungen scheint es zu geben: https://www.industr.com/de/so-wird-die-klaeranlage-zur-energiefabrik-2369627 Freundliche Grüsse, K. Roth
A. Vögeli
Vor 1 Jahr
Dass der Fleischkonsum zurück gehen soll und die Tierhaltung den Anbau von pflanzlichen Lebensmitteln nicht konkurrieren darf, ist unbestritten. Alle Grasflächen – auch die alpinen – in Wald umzuwandeln, dürfte politisch nicht durchsetzbar sein. Grasland sollte also irgendwie genutzt werden.
Potentielle Biogasquellen, die verfügbar sind, sollten konsequent genutzt werden, statt das CO2 ungenutzt in die Atmosphäre zu entlassen. Angesichts des im Vergleich zum heutigen Gasverbrauch kleinen Produktionspotentials sollte Biogas nur dort verwendet werden, wo hohe Temperaturen zwingend benötigt werden.
Die verfügbare Biogasmenge könne fast verdoppelt werden, wenn das CO2 aus dem Roh-Biogas mit grünem Wasserstoff zu Methan umgebaut würde. Auch die hydrothermale Umsetzung von Klärschlamm zu Methan kann zur Menge beitragen. Die in diesem Artikel erwähnten Zusammenhänge sind sicherlich nicht falsch, vernachlässigen aber ein paar benötigte Aspekte, um zu helfen, eine sinnvolle Strategie zu entwickeln.
A. Kost
Vor 3 Wochen
In der Gemeinde Thalwil befindet sich eine Biogasanlage im Bau, die mit einer Kläranlage verbunden ist (ARA). Damit lässt sich auch Abwasser aus Haushalten als Rohstoff für Biogasanlagen verwenden.